Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG, Ostfildern 2019, ISBN 078-3-8436-1184-8,

280 Seiten, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen, Format 22,5 x 15 cm, 

€ 24,00 (D) / € 24,70 (A)

Die Mark Twain zugeschriebene Einsicht ›Wer nicht weiß, wohin er will, der darf sich nicht wundern, wenn er ganz woanders ankommt‹ könnte auch dem Forschungsansatz des 1941 in Bethen, Oberschlesien, heute Polen, geborenen renommierten Erziehungswissenschaftlers, Zukunftsforschers, Wirtschafts- und Politikberaters Horst W. Opaschowski (vergleiche dazu 

https://de.wikipedia.org/wiki/Horst_W._Opaschowski) zu Grunde liegen. Nach Opaschowski muss, wer Aussagen über die Zukunft treffen will, zwar auch „eine Antenne für das Kommende haben, eine Art inneres Radarsystem, das ständig die Gegenwart beobachtet und systematisch der Frage nachgeht: Wo gehen die Dinge hin?“ (Horst W. Opaschowski S.32). Aber er sollte auch wissen, wo herkommt, was ist. 

Deshalb ruhen seine Extrapolationen in die Zukunft seit Jahrzehnten auf der systematischen Untersuchung der Lebensgewohnheit der Bevölkerung und ihrem Vergleich mit früheren Lebensgewohnheiten auf. „Die Ergebnisse von Repräsentativumfragen im Zeitvergleich, sogenannte Zeitreihen, bilden die sozialwissenschaftliche Basis von Prognosen. Prognosen erzielen immer dann eine große Treffsicherheit, wenn sie von der zentralen Frage ausgehen: Wo bleibt und was will der Mensch? Erst danach ergeben sich Antworten darauf, was wirtschaftlich und technologisch alles möglich wäre. Daraus folgt: Große gesellschaftliche Veränderungen von der Perestroika bis zur deutschen Wiedervereinigung lassen sich nicht präzise prognostizieren, auch Kriege und Krisen von der Energiekrise über den Golfkrieg bis zu den Terroranschlägen in den USA nicht – voraussagbar aber sind die Lebensgewohnheiten der Menschen in den nächsten Jahren“ (Horst W. Opaschowski S. 32).

Lebensgewohnheiten sind wie eine zweite Natur; sie bilden sich in der Kindheit und Jugend aus; wenn man das Erwachsenenalter erreicht hat, verändert sich die Persönlichkeit nur noch im Ausnahmefall. Deshalb wandeln sich die Werte einer Gesellschaft auch nicht über Nacht, sondern allmählich und in dem Maße, „in dem die jüngere Generation einer Gesellschaft die ältere  Generation Zug um Zug ablöst. Und eine Generation, die unter veränderten gesellschaftlichen Lebensbedingungen aufwächst, gelangt zwangsläufig zu anderen Erfahrungen und Gewohnheiten. Damit verändern sich auch die Einstellungen zu Arbeit und Leben, zu Partnerschaft, Familie und Freundeskreis“ (Horst W. Opaschowski S. 33). 

Opaschowski geht mit deutschen Philosophen Hermann Lübbe davon aus, dass es im 21. Jahrhundert zu immer schnelleren Innovationsschüben pro Zeiteinheit kommt und wir deshalb mit dem Innovationsparadox leben müssen: Je mehr und je präziser wir Prognosen wie zum Beispiel Wahlprognosen oder Wettervorhersagen abzugeben in der Lage sind, „desto mehr stellt sich bei uns das subjektive Gefühl von Ungenauigkeit und Unsicherheit ein. So entsteht der Zukunftsgewissheitsschwund“ (Hermann Lübbe nach Horst W. Opaschowski S. 34). 

Zukunftsforschung ist für Opaschowski deshalb insgesamt mehr beobachten als prophezeien. „Für mich als Zukunftsforscher gilt: Ich prophezeie gar nichts. Ich beobachte nur, was geschieht, und wäge mögliche Folgen für die Zukunft ab. Mit meinen Forschungen und Publikationen versuche ich Einfluss auf die künftige gesellschaftliche Entwicklung zu nehmen. Wirtschaft und Politik orientieren sich an solchen Empfehlungen – oder auch nicht. In Zukunft findet eine fortschreitende Wissensexplosion in Verbindung mit Beschleunigungsprozessen statt. Macht und Verantwortung, Wissen und Vorauswissen gehören daher zusammen […]. Ein Ziel vor Augen haben und unbeirrt daran festhalten, um es zu erreichen – das sind Grundsätze einer vorausschauenden Zukunftsforschung. Immer erkenntnis- und handlungsleitend getragen von einer ganz persönlichen Motivation – im Sinne des Philosophen Karl Popper, der am 29. Juli 1994 […] erklärte: ›Es ist unsere Pflicht, optimistisch zu sein‹“ (Horst W. Opaschowski S. 38).

Sein jetzt vorgelegter Überblick über seine Forschungsergebnisse in den letzten 50 Jahre erinnert unter anderem daran, wie sich die Lebensprioritäten in Deutschland verändert haben und erläutert, warum Sicherheit die neue Freiheit der Deutschen wird. Demnach hat sich die auf den Finanzmärkten schon lange bekannte Unsicherheit auf alle Bereich des Lebens ausgebreitet. Wer mit Unsicherheiten rechnet, wird sich antifragil verhalten. „Damit ist eine Lebenshaltung gemeint, die mehr als stark, solide, robust und unzerbrechlich ist. Wer sich antifragil verhält, steht Unsicherheiten und Ungewissheiten geradezu positiv und offensiv gegenüber – und rechnet mit Unberechenbarem. Das können auch unwahrscheinliche Ereignisse mit massiven Folgen sein […]. ›Sicher leben statt viel haben‹ lautet die neue Leitlinie des Lebens› […]. Zunehmend gibt es Verlierer, die sich ihres Wohlstands nicht mehr sicher sein können […]. Die Bürger verlieren ihr Vertrauen in die Fähigkeit und Bereitschaft der Politik, mit den Herausforderungen der Zeit fertig zu werden. Auf breiter Ebene herrscht die Meinung vor: Parteien und Politiker sind mehr am Machterhalt als am Wohl der Bürger interessiert. Der soziale Kitt zwischen Politik und Bevölkerung droht verlorenzugehen. Die Folge: […] Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP), die Summe aller Waren und Dienstleistungen, wird nicht mehr als Gradmesser für das persönliche Wohlergehen gesehen. ›Die Wohlstandsgesellschaft entlässt ihre Kinder in eine relativ unsichere Zukunft. Die Wohlstandswende kommt im Lebensalltag der Deutschen an. Die Menschen spüren dies: Die fetten Jahre sind vorbei – Schlaraffenland ist abgebrannt. Die Erkenntnis macht sich breit: Für die nächste Generation wird es in Zukunft viel schwieriger sein, ebenso abgesichert im Wohlstand zu leben wie die heutige Elterngeneration‹“ (Horst W. Opaschowski S. 113 ff.). Bei den Deutschen fängt deshalb das Glücksgefühl derzeit „mit der Garantie von Sicherheit an, bevor im Sinne der Nationalhymne ›Einigkeit und Recht und Freiheit‹ zum Zuge kommen …“ (Horst W. Opaschowski S. 117).

Eigentumsbildung wird so wichtig wie Bildungsförderung. Vor dem Hintergrund der Finanzkrise stellt das Wohneigentum das verlässlichste Fundament einer persönlichen Zukunftsvorsorge dar. Der Wunsch nach mehr Zusammenhalt wird weiter wachsen; für Egoismus ist weniger Platz. In der jungen Generation nimmt die Leistungsorientierung wieder zu. Die Anzahl der Hedonisten aus der Nach-68er-Zeit geht zurück. „Die junge Generation von heute lebt – als Pionier des Wertewandels von morgen – im Gleichgewicht von Leistung und Lebenslust, bei dem kein Lebensbereich einem anderen geopfert wird. Wertesynthese, nicht Wertverlust heißt das neue Lebenskonzept […]. Jeder ist in Zukunft als Lebensunternehmer gefordert, d. h. der Lebenssinn muss im 21. Jahrhundert neu definiert werden: Leben ist dann die Lust, zu schaffen! Schaffensfreude (und nicht bezahlte Arbeitsfreude) umschreibt die künftige Lebensplanung von Menschen, die in ihrem Leben weder unterfordert noch überfordert werden wollen. Statt ›Ehrenamt‹ wird Ehrensache gefragt sein […]. Dem nichtfamilialen privaten Netz kommt in Zukunft […] eine wachsende Bedeutung zu […]. Die Förderung privater Hilfenetzwerke – von den Helferbörsen bis zu den Freiwilligenagenturen – wird zu einer wichtigen sozialpolitischen Aufgabe. Dazu gehört auch die Entwicklung neuer Wohnformen und die Unterstützung von Modellprojekten für gemeinschaftliches Wohnen […]. Die Erfolgsformel lautet […]: Wirtschaftlichkeit durch Sozialverträglichkeit“ (Horst W. Opaschowski S. 122 ff.). 

Schließlich kündigt sich ein Ende der 68-er-Werterevolution an: „Die Bevölkerung favorisiert wieder Anpassungs-, Pflicht und Akzeptanzwerte […]. ›Zurück in die Zukunft!‹ (und nicht Zurück in die Fünfziger Jahre) heißt der neue Werte-Trend der Deutschen. Zugleich verstärkt sich die Suche nach Sinn, Halt und Heimat. Im Zeitvergleich ist feststellbar, dass sich die Menschen wieder mehr für eine bessere Gesellschaft interessieren und auch mithelfen wollen, eine bessere Gesellschaft zu schaffen. Sie suchen eine Sinnorientierung, die Beständigkeit und Bewahrenswertes in das Leben bringt. Und auch Religiosität als positives Lebensgefühl kehrt wieder in den Alltag zurück. Allerdings in veränderter Form: mehr soziale Geborgenheit durch mehr Familiensinn, mehr Gemeinsinn und mehr Bürgersinn. Die Frage lautet dann nicht mehr: ›Welche Kirche bietet mehr Religion?‹, sondern: ›Was hat mehr Sinn?‹. Aus Gottgläubigen können Sinnsucher im Nahmilieu von Familie und Freundeskreis, Nachbarschaft und Gemeinwesen werden […]. Gesucht werden wieder verbindliche Maßstäbe als Leitplanken des Lebens“ (Horst W. Opaschowski S. 236 ff.).

ham, 28. Oktober 2019

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