Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt
Deutsche Verlags-Anstalt in der Verlagsgruppe Random House,München 2019,ISBN 978-3-421-04734-2. 828 Seiten, 32 Abbildungen, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 38,00 € (D) / 39,19 (A) / 49,90 CHF
Eine Achterbahnfahrt kann schwindelig machen: nicht so Ian Kershaws Achterbahn. Europa, 1950 bis heute, in der er seine Geschichte Europas im 20. Jahrhundert vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in das Jahr 2017 auszieht. Kershaw klärt im besten Sinne auf, schafft Durch- und Überblicke und sorgt für einen klaren Kopf. „Die europäische Geschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs war eine turbulente Mischung aus großen Errungenschaften, tiefen Enttäuschungen und sogar Katastrophen, wie die Krisen der jüngsten Zeit gezeigt haben. In vieler Hinsicht glich sie mit ihren Höhen und Tiefen tatsächlich einer Achterbahnfahrt, die in den 1970er Jahren Fahrt aufnahm, sich nach 1990 stark beschleunigte und im neuen Jahrhundert beinahe außer Kontrolle geriet. Ihr kurvenreicher Kurs hielt zwischen der Unsicherheit des frühen Kalten Kriegs und der Unsicherheit der vielschichtigen Krise, von der Europa im letzten Jahrzehnt erschüttert wurde, viel Negatives und Positives bereit“ (Ian Kershaw S. 745).
Der renommierte englische Historiker setzt mit der existentiellen, politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Unsicherheit in den ersten 1950-er Jahren und der Angst vor einem möglichen atomaren Krieg ein, arbeitet den kaum erwarteten wirtschaftlichen Aufschwung und die europäische Integration heraus, spart nicht mit Anerkennung für die kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Deutschland und auch nicht mit Kritik an der von England beanspruchten Sonderrolle. Frankreich gegenüber hält er sich vornehm zurück. „Heute leben die meisten Europäer in Frieden, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und relativem Wohlstand. Offener Rassismus ist verboten, auch wenn rassistische Einstellungen nicht ausgemerzt sind. Die Gleichberechtigung der Frau ist im Grundsatz anerkannt, wenn auch in der Praxis häufig gegen sie verstoßen wird. Homosexuelle Menschen sehen sich keiner offenen Diskriminierung mehr ausgesetzt, auch wenn alte Vorurteile nur langsam absterben. Welchen Maßstab man auch anlegt, diese und andere kulturelle Veränderungen stellen einen enormen Fortschritt dar“ (Ian Kershaw S. 745 f.).
Dazu kommt der materielle Wohlstand, der den europäischen Kontinent zusammen mit seiner relativen Sicherheit für Kriegs- und Armutsflüchtlinge so anziehend macht. „Natürlich ist der Wohlstand in Europa keineswegs gleich verteilt. Die Kluft zwischen Arm und Reich hat sich nicht verkleinert, sie ist sogar größer geworden. Manche Länder und Landesteile sind relativ arm geblieben. Selbst in reichen Ländern gibt es Armut. Die Notwendigkeit von Lebensmitteltafeln in reichen westeuropäischen Ländern ist ein Skandal. Doch das bittere Elend, das im Vorkriegseuropa anzutreffen war, ist verschwunden. Für die Kriegsgeneration war der anhaltende Friede die bemerkenswerteste Entwicklung im Nachkriegseuropa“ (Ian Kershaw S. 747). Der NATO-Schild und das Engagement der Vereinten Nationen waren wesentliche Garanten der Nachkriegsordnung.
Die zweite wesentliche Komponente war die Schaffung der Europäischen Union. „Die komplizierte Vorgeschichte der europäischen Integration beruhte weniger auf strategischen Planungen als vielmehr auf improvisierten Ergänzungen und Anpassungen, die zumeist durch unvorhergesehene Ereignisse herbeigeführt wurden. Das exponentiell wachsende organisatorische Labyrinth, komplexe ökonomische Arrangements, die sich regelmäßig – nicht zuletzt wegen Agrarsubventionen – als entzweiend erwiesen, und die Furcht vor einer stärker werdenden Tendenz zum Aufbau eines supranationalen Staats sorgten für viel Kritik und zunehmender Ablehnung. Aber trotz aller Fehler, Missgriffe und Schwächen bildeten die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl und später die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft nicht nur den Rahmen für den wachsenden Wohlstand, auf dem die politische Stabilität beruhte, sondern bereiteten auch den Boden für dauerhaften Frieden, indem sie freundschaftliche Bande zwischen Frankreich und Westdeutschland schufen“ (Ian Kershaw S. 749). Ein echtes europäisches Identitätsgefühl zu schaffen gelang jedoch nicht.
„Der Zweite Weltkrieg und der Holocaust haben – weit mehr als der Erste Weltkrieg – im Laufe der Zeit das öffentliche Bewusstsein der jüngeren Geschichte dominiert. Das Gedenken an beides ist jedoch nicht geeignet, ein gemeinsames europäisches Identitätsgefühl zu schaffen. Vielleicht ist die vergebliche Suche nach einer europäischen Identität überhaupt unnötig, solange die Bürger der Nationalstaaten sich verpflichtet fühlen, in ihren Ländern die gemeinsamen Grundprinzipien von Frieden, Freiheit, pluralistischer Demokratie und Rechtsstaatlichkeit beachten, den materiellen Wohlstand, der diese Prinzipien untermauert, aufrechtzuerhalten und sich zu bemühen, wo immer möglich die Bande transnationaler Zusammenarbeit und Freundschaft zu festigen“ (Ian Kershaw S. 752).
In seiner Darstellung der Genese des Brexit scheut Kershaw sich nicht, Boris Johnson einen Schnösel mit einem Gespür für die Massen zu nennen. Drei Viertel der Unterhausabgeordneten waren in der von David Cameron anberaumten Abstimmung über den Verbleib Großbritanniens in der EU für deren Verbleib. „Cameron setze sich mit seinem gesamten politischen Gewicht für die ›Remain‹-Kampagne ein, stellte es seinen Kabinettsmitgliedern aber frei, ›Leave‹ zu unterstützen. Prominente Ausstiegsbefürworter waren Justizminister Michael Gove und der frühere Londoner Bürgermeister Boris Johnson, ein Schnösel mit einem Gespür für die Massen, dessen leicht wiederzuerkennende blonde Haarmähne und eingespielte Mischung aus Possenreißer und sprachlicher Gewandtheit ihn, den Absolventen einer der exklusivsten Internatsschulen Englands – Eton –, zu einem der beliebtesten Politiker im Land machten – wenn auch zu einem, der die Gemüter spaltete. Er trug zweifellos dazu bei, dass in dem erbittert geführten Meinungsstreit vor der Abstimmung das Gleichgewicht zugunsten des EU-Austritts kippte“ (Ian Kershaw S. 734).
Neben dem Mauerfall 1989 erscheint der Brexit als einer der Kulminationspunkte der Nachkriegsgeschichte in Europa. Die Wirtschaftskrise im Jahr 2008, „Migration und Terrorismus waren keine spezifisch europäischen, sondern globale Probleme. Die Ukrainekrise hatte internationale Auswirkungen. Selbst der Brexit war, da Großbritannien seine weltweiten Handelsbeziehungen neu ordnen musste, nicht einfach nur eine britische Angelegenheit. Die kollektiven Krisen, die seit fast einem Jahrzehnt die Fundamente der europäischen Zivilisation erschüttert, jedoch nicht zerstört hatten, waren im Sommer 2017 weitgehend überstanden. Sie waren gestoppt worden, aber keineswegs bewältigt“ (Ian Kershaw S. 739).
Was bleibt, sind Fragen an die Zukunft Europas. „Wird es sich den künftigen großen Herausforderungen gewachsen zeigen? […] Wie weit kann das Projekt eines ›immer engeren Zusammenschlusses‹ vorangetrieben werden, wenn die EU […] immer unbeliebter wird? Werden sich die Teile Europas, die jenseits der Grenzen der EU liegen – Russland und die unter seiner Ägide stehenden Länder sowie die Türkei und die Balkanstaaten […] zwangsläufig weiter von ›Kerneuropa‹ entfernen? Nicht zuletzt ist zu fragen, ob sich die EU ›neu erfinden‹ kann, um die gegenwärtigen Schwierigkeiten zu überwinden und die frühere, inzwischen weitgehend verflogenen Begeisterung für das ›europäische Projekt‹ wiederzuentdecken? Das sind die fundamentalen Herausforderungen“ (Ian Kershaw S. 752).
Wer an den Geschichtsunterricht im Gymnasium der 1960er Jahre mit seiner Konzentration auf Männer, die Geschichte schreiben, und seine weitgehende Ausklammerung der Zeit zwischen 1933 und 1948 zurückdenkt, wird sich wünschen, dass Kershaws Höllensturz in die Unterrichtsmaterialien einfließt und die Lehrer anders als in den 1960er Jahren bereit sind, die Geschichte Europas in der Breite ihrer kulturellen, religiösen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Bezüge zu entfalten. Europa hätte auch diese Wende mehr als verdient.
ham, 2. Mai 2019