Deutsche Verlags-Anstalt, München, 2017, ISBN 978-3-421-04435-8, 378 Seiten, 27 schwarzweiße
Abbildungen, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag, Format 22 x 14,5 cm, € 20,00 (D) / € 20,60 (A) /
CHF 26,90

Nach Pindar ist der Mensch eines Schattens Traum, nach Augustinus ein abgrundtiefes Geheimnis und die
Sehnsucht Gottes, nach Nietzsche das noch nicht festgestellte Tier und nach Martin Korte sein Gedächtnis.
Der 1964 geborene und 2001 an der LMU München habilitierte deutsche Biologe Martin Korte hat seit 2007
die Professur für zelluläre Neurobiologie an der TU Braunschweig inne und ist dort geschäftsführender
Leiter des Zoologischen Instituts. Seine Forschungsschwerpunkte sind zelluläre Grundlagen von Lernen und
Gedächtnis, Neurotrophine und ihre Rezeptoren, Synapsen und Plastizität im Hippocampus.

Wir sind, wenn wir Korte folgen, von unseren Erinnerungen bestimmt. Wir sind, woran wir uns erinnern.
Erinnerungen sind dabei nicht nur Datenpunkte auf unserer Lebenslinie oder die Anhäufung von Wissen und
Einzelheiten aus unserer Biografie auf einer Festplatte, sondern der immer neu durch aktuelle Ereignisse,
Erkenntnisse und Emotionen überformte und gezielt ausgewählte Stoff dessen, was wir gewesen sind.
Erinnerungen sind niemals die Erinnerungen an das Ereignis selbst, sondern immer das, was wir beim letzten
Aufruf der Erinnerung abgespeichert haben. Sie bleiben insbesondere dann im Gedächtnis, wenn sie mit
starken Emotionen verbunden sind und wenn wir etwas wie zum Beispiel eine Geburt zum ersten Mal erlebt
haben. Unsere Erinnerungen sind dann „der Stoff, aus dem unser Selbst gestrickt ist, in dem unsere
Erlebnisse und Erfahrungen ebenso verwoben sind wie unsere Gewohnheiten und Gefühle“ (Martin Korte S.
15). Ob wir uns als glücklich oder unglücklich, als erfolgreich oder als gescheitert erleben, liegt in dieser
Perspektive nicht an der göttlichen Vorherbestimmung zum Guten und zum Bösen, sondern an unserem
Gedächtnis. „Wie wir die Welt erleben, ist vorherbestimmt durch das, was wir im Gedächtnis haben“ (Martin
Korte). Was aber ist unser Gedächtnis? „Das gesunde Gedächtnis ist ein Meister im Spinnen, Weben und
Vernetzen. Erst das Gedächtnis stattet uns mit einer individuellen Persönlichkeit und mit einer Ich-
Perspektive aus und lässt uns dadurch zu kulturellen Wesen werden mit einer Identität in der Welt, in der wir
leben. Anders gesagt: Wir Menschen sind unser Gedächtnis – und unser Gedächtnis sind wir“ (Martin Korte
S. 15).

Daraus folgt auch, dass wir nicht ohne unser Gedächtnis wären. „Ohne unser Gedächtnis bliebe nichts von
uns als Person übrig – sogar die sozialen Bezüge gingen verloren. Entsprechend ist das Gedächtnis ein
Schatz, den man hegen und pflegen sollte, und das können wir, je besser wir das Gedächtnis verstehen. Das
Problem dabei ist: Das Gedächtnis hat keinen festen Sitz, keinen ihm zugewiesenen Platz im Gehirn.
Vielmehr ist unser Gehirn in seiner Gesamtheit ein Gedächtnisspeicher, ein Aufbewahrungsort, der sowohl
für den Erwerb von Wissen – und somit Lernen – als auch für den Abruf zuständig ist und dessen
Datenprozessierung maßgeblich durch die Erfahrung geprägt ist. Um es in einem Bild zu sagen: Unser
Gehirn ist ein Acker, um Neues zu lernen, und die Ernte, die es einfährt, ist der Gedächtnisvorrat
(Erinnerungen). Dieser Speicher wiederum nährt unser erworbenes Wissen über die Welt, über Abläufe und
Wahrnehmungen sowie zukünftige Handlungen – es erwirbt, speichert und ruft ab mit denselben
Gehirnstrukturen. Gedächtnis und Gehirn sind untrennbar miteinander verwoben“ (Martin Korte S. 17 f.).

Deshalb sind wir „weder rein biologisch verstehbare Wesen noch […] reine Kulturwesen. Wir sind weder
genetisch determiniert noch werden wir als unbeschriebenes Blatt (Tabula rasa) geboren. Die Forschung der
letzten Jahre zeigt, dass wir viel stärker durch das geprägt werden, was wir erleben, erlernen und
abspeichern, als durch das, was uns die genetische Abstammung mitgibt. Natürlich gibt es in Form unserer
genetischen Ausstattung schon einige ›Gedächtniseinträge‹ im Buch des Lebens. Wer aber die Frage, ›Was ist
der Mensch?‹ (Ecce homo?) beantworten will, der muss unsere Gedächtnisfähigkeit verstehen, denn es ist
das Gedächtnis, welches die Biologie mit der Kultur verknüpft, wenn man so will nature (Natur) mit nurture
(Erfahrungen) verkittet. Es ist unser Gedächtnis, das uns als Individuen ausmacht, uns mit anderen Menschen
verbindet, Kulturen entstehen lässt, persönliches und kollektives Gedächtnis zu einem Band verbindet, das
die Menschheit – und auch ihre Geschichte – darstellt“ (Martin Korte S. 19 f.).

In seinem ersten Kapitel zeichnet Korte unser extrem effizientes, aber auch fehleranfälliges
autobiografisches Gedächtnis nach, im zweiten unsere Gewohnheiten Routinen, Bauchgefühle (Intuitionen),
Vorurteile und Süchte, also unser unbewusstes Gedächtnis. Das dritte Kapitel stellt die Arbeitsweise der
Neuronen vor, die in der Lage sind, Vergangenes festzuhalten, indem die Signalübertragung zwischen den
Nervenzellen und der Schaltplan im Gehirn verändert werden kann. „Lernen bedeutet ein weit größeres Maß
an Baumaßnahmen im Gehirn, als man dies bisher vermutet hat, und das Kapitel möchte aufzeigen, nach
welchen Mechanismen diese plastischen Veränderungen im Gehirn vonstattengehen“ (Martin Korte S. 21). In
Kapitel vier geht es um die Rolle des Schlafs, in Kapitel fünf um die Frage, wie wir mit Hilfe unseres
Gedächtnisses unsere Kreativität steigern können und in den weiteren Kapiteln um Fragen der
gewinnbringenden Nutzung der digitalen Medien, die Notwendigkeit das Vergessen, den nicht gewollten
Gedächtnisverlust und zu guter Letzt um die Frage, was man tun kann, um dem Gedächtnis auf die Sprünge
zu helfen.

Neben der zentralen Frage nach der eignen Motivation, dem Glaube an die eigene Leistungsfähigkeit, dem
bewusst herbeigeführten Ausbrechen aus Routinen und der Bewegung spielt nach Korte auch das gesunde
Essen eine Rolle. Es macht zwar allein nicht schlau, aber es hilft, unser Gehirn instand zu halten. „Generell
gilt dabei: Es ist wichtiger, ein Auge darauf zu haben, was wir nicht zu uns nehmen sollten, als auf das zu
achten, was wir essen. Denn der größte ernährungstechnische Feind für den Erhalt des Gedächtnisses ist das
Übergewicht. Hier sind vor allem die Fettdepots im Bauchbereich zu nennen, die Entzündungsreaktionen im
Körper forcieren und auch im Gehirn über Jahrzehnte hinweg Schaden anrichten. Unsere Essgewohnheiten
[…] bestimmen zu einem großen Teil, ob wir übergewichtig werden […]. Nach Schätzungen des Robert
Koch-Institutes aus dem Jahr 2016 sind aktuell 25 Prozent aller Deutschen stark übergewichtig […]. Dabei
kann man auch hier mit kleinem Aufwand viel für seine Gesundheit tun […]. Die zu erlernenden Essregeln
sind relativ einfach: Essen Sie Lebensmittel, die bunt sind (Gemüse, Obst), mehr Fisch, weniger Fleisch,
mehr Eiweiß, weniger Kohlehydrate. Essen Sie zu festen Zeiten und meiden Sie Fruchtsäfte mit hohem
Zuckeranteil […]. Die WHO rät schlicht: weniger Zucker, weniger Salz, weniger gesättigte Fettsäuren, dafür
aber mehr Ballaststoffe, Obst und Gemüse […].

Natürlich darf man sich ob des Beschriebenen nicht der Illusion hingeben, dass eine Hand voll Blaubeeren,
eine leckere Forelle oder eine Schale Nüsse das Lernen selbst ersetzen, einen verjüngenden Effekt auf unsere
grauen Zellen haben oder das Gedächtnis bis ins hohe Alter hinein erhalten bliebe. Aber das Erlernen
richtiger Nahrungsgewohnheiten […] spielt für die Gesundheit des Körpers im Allgemeinen und für die
Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses im Besonderen eine wichtige Rolle. Kurzum, wer versucht, sich
gesund zu ernähren und sich viel bewegt, tut schon eine ganze Menge für den Erhalt der essentiellen
organischen Grundlage unseres Gedächtnisses“ (Martin Korte S. 364 ff.).

ham, 19. Januar 2018
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