Aktualisierte und um ein Postskriptum erweiterte Neuauflage
dtv Verlagsgesellschaft München, 2008 / 2017, ISBN 978-3-423-34920-8, 300 Seiten, 7 Abbildungen,
Broschur, Format 19,1 x 12,3 cm, € 10,90 (D) / € 11,30 (A) / CHF 15,50
Norbert Frei hat seine Studie »1968« 40 Jahre post festum mit der Bemerkung abgeschlossen, dass 1968
nicht das Jahr war, „das alles verändert hat, dazu war viel zu viel bereits im Gang. Aber nach ›68‹ war fast
nichts mehr so wie vorher. Und in diesem Sinn war ›68‹ überall“ (Norbert Frei S. 228). Der 1955 geborene
und in Jena lehrende Neuzeithistoriker hat die schwerlich auf einen einzigen Nenner zu bringende und unter
anderem als Studentenbewegung, Jugendrebellion, Generationenrevolte, Sozialprotest, Lebensstilreform und
Kulturrevolution bezeichnete Bewegung dann als Jugendrevolte und globalen Protest gedeutet, ihre
Ursprünge in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und in der Free Speech Movement in Berkeley
Anfang der 1960er-Jahre verortet und 1968 als eine Erfindung und einen Assoziationsraum gesellschaftlicher
Zuschreibungen und auktorialer Selbstdeutungen beschrieben. In den USA waren die Proteste schon 1970
abgeflacht, obwohl der Vietnamkrieg weitergegangen war. In West-Berlin und in Frankfurt hatten die
Studenten sich um die Mitte des Jahrzehnts zu regen begonnen, in Japan ebenfalls um 1965. In Italien waren
bereits die Jahre 1966/67 von studentischen Protesten geprägt. „In Holland, in England und überall, wo sich
der Protest stärker kulturell artikulierte, begann dies noch vor Mitte des Jahrzehnts […]. In Frankreich
beschränkte sich alles, eindeutiger als irgendwo sonst im Westen, tatsächlich auf das Frühjahr 1968. Der
Protest in Prag und andernorts hinter dem Eisernen Vorhang schließlich stand in der antistalinistischen
Tradition des freiheitlichen Aufbegehrens gegen die Sowjetunion – und überlebte anno 1968 kaum länger als
1953 in Ost-Berlin und 1956 in Ungarn“ (Norbert Frei S. 212). Aus Amerika übernommen wurden vor allem
die Aktionsformen der Sit-ins, der Go-ins und die öffentlichkeitswirksamen Happenings.
Für Frei ist das Globalphänomen »68« ohne den Hinweis auf geistige Netzwerke und intellektuelle
Austauschbeziehungen so wenig zu verstehen wie ohne die signifikanten Veränderungen in der
Sozialstruktur. „Zwar sind Letztere weitaus leichter zu messen als die Einflussströme von Ideen, aber zum
Beispiel die Präsenz des deutschen SDS 1962 in Port Huron oder 1968 im Pariser Mai – und die vielen
internationalen Treffen in den Jahren dazwischen – verweisen auf das starke Moment der Transnationalität
der aufkommenden Bewegung. Generell wird man sagen können: Der runderneuerte nichtdogmatische
Marxismus, den Hitler einmal um die Welt getrieben und der inzwischen, angereichert mit Elementen der
Psychoanalyse, der Kulturkritik und der Existenzphilosophie, nach Europa zurückgefunden hatte, übte auf
die Neue Linke […] große Faszinationskraft aus. Der alte Herbert Marcuse war die Personifikation dieser
Attraktivität“ (Norbert Frei S. 215). Insgesamt ging es um nichts Geringeres als um eine bessere Welt, um
die Befreiung der Unterdrückten, um die gesellschaftliche Teilhabe aller, um ein Mehr an Demokratie, um
Emanzipation, Partizipation und Transparenz. Deutschland unterschied sich von allen anderen Ländern durch
die unausweichliche Präsenz der Untaten der Väter. „In der vergangenheitspolitischen Landschaft […] stand
[…] der Mord an den europäischen Juden wie ein Gebirge aus Schuld. Dessen Unermesslichkeit empfanden
vor allem die Jungen. Auch wenn es noch ein Jahrzehnt und länger dauern sollte, ehe der Begriff
›Holocaust‹ und die Vorstellung eines ›Zivilisationsbruchs‹ in die deutsche Sprache finden sollten: Im
kollektiven Bewusstsein der ›68er‹, vielleicht mehr noch in ihren Ahnungen, war die Untat der Väter
präsent“ (Norbert Frei S. 221 f.).
Norbert Frei hatte das deutsche »68« in seinem Nachwort von 2008 noch als »überkommentiert und
untererforscht« bezeichnet. Letzteres trifft 2017 nicht mehr zu. Schon ein flüchtiger Blick in die für die
Neuausgabe erheblich erweiterte Auswahlbiografie zeigt eine um 2008 einsetzende Forschungskonjunktur.
„Als wichtigste Tendenz dieser neueren wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Protestbewegungen ›um
68‹ wird man – neben ihrem […] Augenmerk auf transnationalen und transfergeschichtlichen Aspekten –
ihre stärkere Einbeziehung der Geschichte des Kalten Kriegs hervorheben können. In dieser gleichsam
geopolitisch erweiterten Perspektive stellt sich die Herausbildung einer Neuen Linken fast überall im
Westen schon seit den späten fünfziger Jahren als eine direkte Konsequenz aus dem Szenario der atomaren
Bedrohung dar“ (Norbert Frei S. 236). Dazu kommen die kulturwissenschaftliche Erforschung der
ästhetischen Gestalten der Gesellschaftskritik und des Protests, zahlreiche regionale und stadtgeschichtliche
Darstellungen, deutliche erweiterte Studien zu den Geschehnissen in der DDR und in den Staaten
Osteuropas, erste Studien zu den leisen Formen des Protests in der Schweiz und in Österreich und eine auf
Deutsch verfasste Monografie des studentischen Protests in Mexiko. Letztere führt die Ereignis- und die
Erfahrungsgeschichte zusammen. Man mag diese Zusammenführung „als Folge eines in den
Geisteswissenschaften noch immer anhaltenden ›Memory Booms‹ begreifen, aber vielleicht ist es auch ein
Zeichen dafür, dass ›68‹ aus der Perspektive jüngerer Forscherinnen und Forscher tatsächlich nur mehr
Geschichte ist“ (Norbert Frei S. 238).
ham, 18. Dezember 2017