Herausgegeben von Beate Fricke. Mit Beiträgen von C. Brittenham, Béatrice Caseau, J. Elsner, N. Dennis, B. Fricke, M. Gaifman, M. Graves, K. Neumann, Y. Ning, K. Stern und A. Stielau

Hirmer Premium, Hirmer Verlag, München, 2023, ISBN: 978-3-7774-3948-8, 340 Seiten, 170 Farbabbildungen, Hardcover, Leineneinband, ungestrichenes Papier, Format 31 x 22 cm. Text in Englisch. Als Besonderheit ist die Publikation in Kohlepapier verpackt und hebt so den Inhalt des Buches hervor. Beim Auspacken entsteht für jedes Exemplar ein individuelles und einzigartiges Coverdesign. € 49,90 (D) / GBP 45,00 / € 51,30 (A) / USD 50,00

Weihrauch erzeugt bei seiner Erhitzung nicht nur Schwaden von Rauch, sondern auch wohlduftende Gerüche und verändert die sensuelle Erfahrung (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Weihrauch#/media/Datei:Weihrauchmischung.jpg). Die Substanzen, die diese Effekte hervorrufen, müssen mit Feuer erhitzt werden. Das verlangt ein Gefäß, das die Glut und damit die Transformation der Weihrauchkörner aufrechterhalten kann (vergleiche dazu etwa das dem 7. Jh. zugerechnete Weihrauchgefäß aus der Antikensammlung Ludwig, Basel, BRE 644, Foto Beate Fricke: https://www.facebook.com/museumrietberg/photos/a.185515014795062/5348213385191840/?type=3). Diese Gefäße für glühendes Harz nennt man Weihrauchgefäße. Es gibt sie überall auf der Welt und in allen Arten, Sorten, Gestalten, Größen, Ausführungen und Materialien. Einige sind extrem einfach, andere verschwenderisch verziert und extrem teure Luxusobjekte. Sie  werden in öffentlichen und privaten Ritualen gebraucht, können heilen, Wunder bewirken, religiöse Grenzen überspringen. Ihr Gebrauch kann die Sphären von Handel, Gewerbe, Gesundheit, Pflege, Religion, Ökologie, Philosophie, Politik und Kunst verbinden. Und sie laden uns dazu ein, über die verbundenen Seiten ihres  Gebrauchs nachzudenken.

Deshalb überrascht es, dass Weihrauchgefäße bisher in der Religionsgeschichte, der Kunstgeschichte und der Materialkultur wenig Aufmerksamkeit erfahren haben. Das sollte die von Beate Fricke initiierte Konferenz zum Thema und das will die jetzt von ihr herausgegebene Publikation ›Holy Smoke‹ verändern. Die 1974 in Heilbronn geborene Fricke (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Beate_Fricke und https://www.ikg.unibe.ch/ueber_uns/personendaten/prof_dr_fricke_beate/index_ger.html) lehrt nach einer Assistenzprofessur in Berkeley und einem Forschungsstipendium des American Council of Learned Societies für das Forschungsprojekt ›Object Histories: Flotsam as Early Globalism‹ seit 2017Ältere Kunstgeschichte am Institut für Kunstgeschichte der Universität Bern.

In ihrer Einführung in den Band erinnert Fricke an den auf dem Gebiet der alten amerikanischen Kunst bewanderten Kunsthistoriker Georg Kubler (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/George_Kubler), der „Hauptobjekte“, die am Anfang einer Kette von formal ähnlichen Objekten stehen und zu denen es keine oder kaum schriftliche Quellen gibt, von ihrer Morphologie her auf innovative kreative Konzepte und den künstlerischen Geist untersucht hat, die zu diesen Veränderungen bewegt haben. Bei der Untersuchung von Räuchergefäßen stoße man nach Fricke jedoch auf eine Fülle erhaltener Objekte, die in Aussehen, Funktion und Herstellungsweise ähnlich sind, sich aber auch in wesentlichen Punkten unterscheiden. Deshalb würden sich unter anderem folgende Fragen stellen: Ist ihr Hauptobjekt unter ihnen oder sind die subtilen Veränderungen in den Räuchergefäßen nicht doch auf absichtliche Modifikationen in einer morphologischen Kette zurückzuführen? Und verlangen sie nicht, dass der Kunsthistoriker, Archäologe oder Anthropologe ein vorrangiges Objekt oder den individuellen künstlerischen Willen suchen? 

Räuchergefäße sind in aller Regel Objekte, die ohne Hersteller, Benutzer, Kontext oder Dokumentation verwendet werden. Sie bilden damit den idealen Fall für die Untersuchung der immer wichtiger werdenden neuen Studienbereiche in der Kunstgeschichte, Archäologie und Anthropologie, die sich mit dem Ungleichgewicht auseinander gebrochener Archive sowie mit den Diskrepanzen zwischen den Kulturen des geschriebenen Wortes und der materiellen Objekte befassen, die nicht oder kaum in die schriftliche Überlieferung eingegangen sind. Deshalb sollten auch die primären Objekte als Teile eines über Raum und Zeit verflochtenen Netzes verstanden und der Fokus vom Primärobjekt auf die Netze verlagert werden, die bei ihrer Genese Pate gestanden haben. Es geh dann sowohl um die Betrachtung der materiellen Herstellung der Räuchergefäße als auch um die Bedeutung und Rolle des Weihrauchs, wenn er im Verlauf von religiösen Zeremonien verdampft. Durch den Vergleich von Räuchergefäßen in verschiedenen Kulturen werden Ähnlichkeiten und Unterschiede in Religionen aufgedeckt. Schließlich kann das vorherrschende Narrative „Ära der Kunst“ hinterfragt und in den größeren Kontext der Kulturgeschichte eingebunden werden. 

Frickes persönliches Interesse an den Weihrauchgefäßen wurde durch eine Gruppe frühchristlicher Weihrauchgefäße mit Reliefszenen aus dem Leben Christi geweckt, die in ihren frühesten Beispielen auf das Jahr 600 zu datieren und in der syrisch-palästinensischen Region zu verorten sind (vergleiche dazu das vierte Kapitel des als Video aufgezeichneten Vortrag von Beate Fricke zum Thema „Im Namen des Bildes. Bilder im Kult – Objekte im Ritual und die Bilderfrage im lateinischen Westen“ – im Video ab Minute 47: https://www.youtube.com/watch?v=85wk0PmWcYI des Vortrags von Fricke). Zu ihren ikonografischen Details gehören die lange Tunika, die Christus in der Szene der Kreuzigung trug und mögliche Analogien mit der Kirche des Heiligen Grabes in der Szene der Grablegung. Details wie die Anzahl der in der Szene der Taufe anwesenden Engel und die verschiedenen Positionen Mariens bei der Geburt Christi könnten von einem Moment in der christlichen Kunst sprechen, in dem die ikonografischen Traditionen noch nicht genau festgelegt waren. Alternativ haben sich die Hersteller dieser Räuchergefäße im Laufe der Zeit möglicherweise nicht strikt an ihre Modelle gehalten. Keines der konservierten Räuchergefäße aus Bronze ist anderen ganz gleich. Sie scheinen entweder mit Formen gegossen worden zu sein, die später verloren gegangen sind. Oder ihre Produktion war so zahlreich, dass viele überleben, aber nicht das Modell. Diese Räuchergefäße haben Fricke dazu inspiriert, Wissenschaftler aus unterschiedlichen Teilgebieten der Kunstgeschichte zur Diskussion über Veränderungen in Erscheinungsbild von Räuchergefäßen in verschiedenen Zeiträumen einzuladen und die kulturellen Kontexte zu analysieren. Sie hofft, dass Bände wie der hier vorgestellte einen kritischen Dialog über die Teilbereiche der Kunstgeschichte hinweg initiieren und dazu beitragen, Theorie-rahmen zu entwickeln, die auf kollaborativen empirischen Analysen der Werke innerhalb ihrer Kultur basieren.

Im vorliegenden Band geht Claudia Brittenham der entscheidenden Rolle nach, die Rauch und Feuer in der mesoamerikanischen Tradition spielten. Sie entfaltet das multisensorische Erleben von Copalharz in Ritualen, die den Einsatz von Räuchergefäßen und Kohlenpfannen mit Gesängen, Gebeten, Tänzen, Kostümen, Opfergaben und anderen wirksamen Substanzen kombinieren. Zu ihren Beispielen aus drei Jahrtausenden gehören fest installierte Räuchergefäße und mit Stacheln versehene Sanduhr-Incensarios (vergl. dazu https://www.latinamericanstudies.org/mayan-censers.htm), die in Verbindung mit Schöpfkellen-Räuchergefäßen und tragbaren Gegenständen verwendet werden.

Kiersten Neumann diskutiert die Geräte, die zum Verbrennen von Weihrauch in Westasien verwendet werden. Ihr Schwerpunkt liebt bei Räuchergefäßen aus der neuassyrischen Zeit, aber auch bei früheren, zeitgenössischen und späteren Räuchergefäßen aus benachbarten Regionen. Aus schriftlichen Quellen geht hervor, dass Räuchergefäße sowohl tragbar als auch fest installiert waren. Reliefskulpturen, Textvorschriften und materielle Kultur zeigen die Bedeutung der Verbrennung von Weihrauch in assyrischen Ritualen (vergleiche dazu https://www.britishmuseum.org/collection/object/W_1856-0909-5 ).

Karen Stern überdenkt die Rolle von Räuchergefäßen und rituellen Handlungen beim Verbrennen von Weihrauch in den Andachtspraktiken von Israeliten, Judaitern und Juden in der Antike, im Mittelalter und in der Neuzeit im Nahen Osten, in Nordafrika und in Europa. In ihrem Beitrag geht es um die Gestaltung, Präsentation und Verwendung von Weihrauchgefäßen in Schriften sowie Bodenmosaiken, Öllampen und Manuskripten (vergleiche dazu https://www.imj.org.il/en/collections/370862-0).

Die weiteren Kapitel befassen sich mit Weihrauchgefäßen in der griechischen Antike (Millette Gaifman), der Spätantike und Byzanz (Nathan Dennis), im frühen Islam (Margaret Graves), in der Zeit nach der Reformation (Alison Stielau), im späteren China (Yao Ning) und schließlich auch mit dem Stoff, der brennt (Béatrice Caseau).

Jas Elsner weist in seinem Nachwort auf die Synästhesie von Religion und die Art und Weise hin, wie Duftlandschaften, Klanglandschaften und Lichtlandschaften an jedem beliebigen Ort durch kollektiv verkörperte Erfahrung eine kraftvolle sakrale Atmosphäre schaffen können. Räuchergefäße sind für ihn Hilfsinstrumente zur instrumentellen Transformation eines natürlichen Materials in etwas anderes und Erfindungen, die Körper und verkörperte Subjektivität durch materielle Objekte mit einer unsichtbaren Welt und Imaginationen anderer Art verbinden.

ham, 19. Dezember 2023

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