Katalog zu den gleichnamigen Ausstellungen vom 31. Oktober 2015 bis 24. Januar 2016 im Max-Pechstein-
Museum, Kunstsammlungen Zwickau und vom 19. März bis 5. Juli 2016 im Städtischen Kunstmuseum
Spendhaus Reutlingen, herausgegeben von Susanne Altmann und Petra Lewey mit einem Vorwort von Petra
Lewey und Herbert Eichhorn und Essays von Susanne Altmann, Matthias Rekow, Till Ansgar Baumhauer
und Alexander Roob

Kunstsammlungen Zwickau / Städtisches Kunstmuseum Spendhaus Reutlingen / Verlag der Kunst, Husum,
2015, ISBN 978-3-86530-218-2, 64 Seiten, zahlreiche Farb- und Schwarz-Weiß-Abbildungen,
Klappenbroschur, Format 25,5 × 20,2 cm, € 15,00

Re:bellion. Re:ligion. Re:form
artistic action in times of crisis

Edition von 15 Linolschnitten von Viktoria Lamosko, Henrik Schrat, Daniel Sasson, Pala Pothupitiye, Khalid
Wad Alhaih, Nina Paley, Jan Brokof, Nadia Plungian, Ganzeer, Maripelly Praveen Goud. Herausgegeben
von Susanne Altmann zur gleichnamigen Ausstellung mit kurzen erläuternden Skizzen zu den Arbeiten;
gedruckt von den Originallinolschnitten auf dem „Präsident“-Zylinder von Thomas Simon

Lubok Verlag Leipzig, Leipzig 2015, ISBN 978-3-945111-21-5, 16 Seiten, 15 Schwarzweiß-Abbildungen,
Rückstichheftung, Format 44 × 32,6 cm, € 25,00

Für den 1807 in Stuttgart geborenen protestantischen Theologen, Dichter, Historiker und Politiker Balthasar
Friedrich Wilhelm Zimmermann war der deutsche Bauernkrieg ein Kampf des „teutschen Mannes“ um seine
Freiheit und gegen die Verknechtung durch Adel und Klerus. „Durch das ganze Mittelalter hin war von Zeit
zu Zeit das Landvolk gegen adelige und geistliche Herren aufgestanden, teils zur Wahrung seiner alten,
ursprünglichen Freiheit, teils zu Abwehr der Willkür, welche gewaltsam die Lasten der Unfreien schwerer,
die Hörigen zu Leibeigenen machen wollte. Dieser Kampf zeigt sich durch ganz Europa auf vielen
Punkten“ (Wilhelm Zimmermann, Geschichte des großen Bauernkriegs, Stuttgart,1840 bis 1843. Zitiert nach
http://www.bauernkriege.de/zimmermann.html). Friedrich Engels hat sich in seiner Geschichte des deutschen
Bauernkriegs von 1850 ebenso auf Zimmermann berufen wie die Geschichtsschreibung der DDR. Aus der
Reformation ist dort die frühbürgerliche Revolution geworden. Bauernkrieg und Reformation beeinflussen
sich nach dieser Vorstellung wechselseitig und entfalten eine systemsprengende Wirkung. „Wenn
ursprünglich hinsichtlich der Periodisierung vorgeschlagen wurde, das Revolutionsgeschehen von 1476 bis
1535 zu datieren, also vom Auftreten Hans Böheims, des „Pfeifers von Niklashausen“ im Taubertal, bis zur
Täuferherrschaft in Münster und ihrer Niederwerfung, wurde dieses bald auf die Jahre 1517 bis 1525
eingegrenzt, also auf die Reformations- und Bauernkriegszeit im engeren Sinn. Aber auch die inhaltlichen
Charakteristika erfuhren erhebliche Wandlungen. Anfangs wurde als Ursache des Revolutionsprozesses eine
gesamtnationale Krise genannt, später eine gesamtgesellschaftliche Krise. Aufgegeben wurde die
Auffassung, die hauptsächliche Aufgabe dieser Revolution sei „die Herstellung eines einheitlichen
Deutschland und die Beseitigung alles dessen, was der Einheit der werdenden Nation entgegenstand“,
gewesen, stattdessen der Lösung ökonomischer und sozialer Probleme am Beginn der Übergangsepoche zu
einer bürgerlich-kapitalistischen Ordnung der Vorrang gegeben. In politischer Hinsicht sei es nicht um eine
grundsätzliche Veränderung der Machtverhältnisse gegangen, sondern um die Veränderung des
Kräfteverhältnisses zugunsten bürgerlicher Schichten. Über die Folgen hieß es in den Thesen, das
„Klassenbündnis der Reaktion“ habe über die Ritterschaft, die Bauern und Städter und über die Täufer
gesiegt“ (http://www.mennlex.de/doku.php?id=top:fruehbuergerliche-revolution).

Für den Kirchenhistoriker Heiko Augustinus Oberman war es dagegen wichtig, „Luther und die Reformation
in den Horizont einer philosophie- und theologiegeschichtlichen Entwicklung hineinzustellen, in der die
Orientierung am real-existierenden Einzelding, die Konzentration auf die Erfahrung und ein
konstruktivistisches Sprachverständnis, mithin Prägungen durch den Nominalismus und die
antipelagianische Gnadenlehre Augustins von zentraler Bedeutung waren. Die Reformation sollte vor dem
Hintergrund des Herbstes der spätmittelalterlichen Theologie im Sinne einer Erntezeit verstanden werden;
für Oberman waren in via moderna und devotio moderna Impulse wirksam, die über die Vermittlung der
Reformation und der Gegenreformation, auch der sogenannten dritten Reformation der Spiritualisten, Täufer
und Devianten, in die Moderne einmündeten“ (Thomas Kaufmann, Zum Bild der Reformation.
Historiographische und theologische Überlegungen angesichts des Jubiläums 2017. In: https://
www.google.de/#q=www.hallo+Luther+Heiko+A.+Oberman). Thomas Kaufmann selbst will schließlich die
Reformation 1. „nicht als Geschichte einer eigenen, von ihrer Vor- und ihrer Nachgeschichte isolierten
Epoche“ konzipieren, „sondern als Zentraletappe im Rahmen einer kirchengeschichtlichen Epoche der
frühen Neuzeit.“ 2. Die Reformation ist für ihn „vor dem Hintergrund prägender Voraussetzungen der
Religions-, Medien- und Kulturgeschichte des Mittelalters darzustellen; der spezifische historiographische
Zäsurcharakter, der der Reformation gleichwohl zuzuerkennen ist“, verdankt sich dem in sich pluralen
Spätmittelalter. „3. Im Unterschied zum makrohistorisch ansetzenden Konfessionalisierungskonzept, das
vornehmlich auf die Strukturachse Religion-Politik fixiert ist, hat eine kulturgeschichtlich geläuterte
Reformationsgeschichtsschreibung bei den Akteuren der Reformation und ihren Handlungsmotiven
anzusetzen“ (Thomas Kaufmann, a. a. O. In: https://www.google.de/#q=www.hallo+Luther++Kaufmann).

Die von Susanne Altmann im Vorfeld des Reformationsjubiläums für Museen der eng mit der Reformation
verbundenen Städte Zwickau und Reutlingen konzipierte Ausstellung Re:bellion. Re:ligion. Re:form greift in
ihrem Titel die Formulierung einer 1985 von Bruce Lincoln in New York herausgegebenen interdisziplinären
und kulturübergreifenden Aufsatzsammlung zurück, variiert ihn, überlässt die Feinheiten der kirchen-,
religions- und kulturgeschichtlichen und historiographischen Ein- und Zuordnung von Bauernkrieg und
Reformation der Fachdiskussion und konzentriert sich auf die Rolle, die Künstler in exemplarischen
Umbruch- und Krisenzeiten wie der Reformation und dem Bauernkrieg gespielt haben. Ihr weit
ausgreifendes Ausstellungsprojekt nimmt die religiösen und sozialen Krisenzeiten vom Spätmittelalter bis
zur Arabellion und dem Nahen Osten in den Blick. „Religion und Krisen, Spannungen in Glaubensfragen
und soziales Unbehagen lösen Umbrüche aus. Insofern stehen Reformation und Deutscher Bauernkrieg
modellhaft für komplexe Krisensituationen. Blicken wir heute auf den Arabischen Frühling, nach Israel und
Palästina, auf die Islamische Republik Iran, auf den langjährigen Bürgerkrieg in Sri Lanka oder auf
Russlands wieder erstarkte Orthodoxie, so wird klar: Allzu oft begleiten religiöse Dispute die Kontroversen
oder lösen sie gar aus. Konträre religiöse Ansichten liefern Rechtfertigungen für Aufstand und Gewalt. Das
hat sich seit fünfhundert Jahren nicht geändert. Dabei funktioniert bildende Kunst nicht nur als Kommentar,
sondern auch als Katalysator. Häufig nimmt sie dabei neue Formen an. Nicht von ungefähr widmet sich die
Lutherdekade 2015 dem Thema von Bild und Wort. Denn im Umfeld des Bauernkrieges entstand mit den
Einblattdrucken ein innovatives Medium. Flugschriften der Protestanten verbreiteten die Ideen der
Reformation. Die polemisch zugespitzten Holzschnitte trafen den Nerv der Zeitgenossen. Sie waren leicht
reproduzierbar, erschwinglich und erreichten ein großes Publikum. Flugschriften […] erzeugen also ihre
eigene visuelle Kultur. Mit globalem Radius verfolgt Re:bellion // Re:ligion // Re:form diese
Phänomene“ (Pressematerial der Satz Zwickau. Zitiert nach http://www.derzwickauer.de/
rebellion_religion.html).

Die Ausstellung geht von den neuartigen Flugblättern aus, die die Bilder mit Hilfe des als „Kommentar,
Kampfschrift oder Slogan“ verstandenen Wortes über die Bilderstürme des angehenden 16. Jahrhundert
hinweg in Götzenkammern retteten. So stammen der in der Ausstellung gezeigte Altarschrein mit einem
Verkündigungsrelief von 1510, die Holzfiguren des Hl. Stephans und des Diakons Laurentius (beide um
1500) aus der Zwickauer Götzenkammer und die Skulptur eines liegenden Christus aus einer in einem der
beiden Kirchtürme der Reutlinger Marienkirche aufbewahrten Truhe. Das Für- und Wider der Bilder wird in
den seit Mitte des 16. Jahrhunderts „fliegende Zeitungen“ genannten Druckpublikationen ausführlich
erläutert. Berühmt ist Erhard Schöns Einblattholzschnitt Die Klagerede der armen und verfolgten Götzen
und Tempelbilder, um 1530, ebenso geworden wie Lucas Cranachs d. Ä. Passional Christi und Antichristi
von 1521 mit seinen 13 Bildpaaren, die das Leben und die Passion Christi dem antichristlichen Verhalten des
Papstes gegenüberstellen. „In der neunten Antithese zieht Jesus bescheiden auf einem Esel sitzend mit seinen
Jüngern nach Jerusalem ein. In Opposition dazu reiten Papst, Bischof und Kardinäle auf prächtigen Rossen
[…] in den von drei Dämonen umschwirrten Höllenschlund“ (Matthias Rekow S. 15). Wenn der Heiland „die
Geldwechsler aus dem Tempel jagt, überwacht der Pontifex Maximus […] den Ablasshandel; wenn Jesus mit
Kranken betet, pflegt der Papst Zerstreuung bei einem Turnier […]. Obwohl das Wort hier eine große Rolle
spielt, stellt(e) der Dualismus von These und Antithese ein probates bildliches Mittel dar, um Botschaften so
zuzuspitzen, dass auch des Lesens Unkundige sie verstanden. Dieses demokratische Moment der
Zugänglichkeit zieht sich […] durch die gesamte Geschichte von Flugschriften, vom Bauernkrieg über die
russischen Lubki und die sowjetischen Agitationsserien bis hin zu der politischen Street Art des Arabischen
Frühlings“ (Susanne Altmann S.6).

Damit ist auch schon der weitere Gang der Ausstellung angedeutet: Gezeigt werden unter anderem das
Flugblatt des unbekannten Meisters, der die Hängung der 48 Rädelsführer am 30.1 1633 im Ort Hessingen
oder Häsingen, heute Hésingue zeigt, Jacques Callots Radierung Der Galgenbaum, um 1633, die das Motiv
aufgreift und die auf Anregung von Till Ansgar Baumhauer angeregte Kooperationsarbeit mit dem in Herat
ansässigen Teppichknüpfer Wekil Ahmed Hakkani God will judge our enemies/we´ll arrange the meeting
von 2012/13. Max Pechsteins Holzschnittserie Vaterunser von 1921 fehlen ebenso wenig wie die Rosta –
Fenster der bolschewistischen Kunstarmee aus demselben Jahr. Aus der Zeit der DDR finden Lea Grundigs
Radierungen Jäcklein Rohrbach jagt die Ritter in die Spieße, in der Schlacht bei Weinsberg, 1956 und Luther
gegen die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern: »Ihr sollt sie zerschmeißen, stechen und
würgen, zu jeder Zeit und wer da kann-« von 1974 Aufnahme in die Ausstellung. Von HAP Grieshaber sind
seine Farbholzschnitte Heller lichter Haufen, Heller Tauber- und Schwarzer Haufen und Heller christlicher
Haufen von 1974 aus der Mappe zum 450 Jahrestags des Bauernkriegs zu sehen. „Grafiker wie der Street-
Aktivist Ganzeer aus Ägypten haben“ mit Wandgemälden wie dem Panzer gegen Brotjungen, Kairo, 2011,
„geradezu ikonographische Motive geschaffen, die zu Recht in den Kanon politisch gestimmter Bildkunst
eingehen dürften“ (Susanne Altmann s. 10). Die 1968 in den USA geborene jüdischstämmige Nina Daley
steuert den Kurzfilm „Dies Land ist mein“, 2012, bei, der das geopolitische Dilemma des Nahen Ostens kurz
und knapp auf den Punkt bringt: „Der Höhlenmensch wird vom Kanaaniten gemeuchelt, der vom alten
Ägypter, der vom Assyrer, der folgende Israelit vom Babylonier und so weiter bis zu den Zionisten, PLO,
Hamas, Hisbollah und dem israelitischen Militär […]. Am Schluss des Ganzen steht der
Todesengel“ (Susanne Altmann S. 56).

Die präzise ausgewählten Arbeiten können paradigmatisch für die verschiedenen Facetten des Themas
Re:bellion. Re:ligion. Re:form stehen, wenn man sich die Mühe macht, sich in die komplexen Umstände
einzuarbeiten, in denen sie entstanden sind. Deshalb hätte Susanne Altmanns kulturhistorische Einführung
mehr Differenzierung und Redundanz verdient und Kapitel wie der Arabischen Frühling das eine und das
andere weitere Exponat. Auch deshalb sind Petra Leweys und Herbert Eichhorns einleitende Hinweise auf
die zeitgeschichtlichen Umstände, in denen in Zwickau und in Reutlingen die Reformation eingeführt
worden ist, für die innere Stringenz der Ausstellung ebenso von Belang wie die zur Ausstellung im Lubok-
Verlag erschienene Edition von 15 Linolschnitten. Letztere gehört zu den Höhepunkten der Ausstellung:
„Ausgangspunkt war das einzigartige Medium des Einblattholzschnitts, das sich im Deutschland des 16.
Jahrhunderts entwickelte – als Begleiterscheinung der frühen Reformation und des Bauernkriegs. Politisch
und aktivistisch arbeitende Künstler aus aller Welt wurden eingeladen, pointierte Reaktionen auf aktuelle
lokale und globale Konflikte zu schaffen. So thematisieren etwa […] der Israeli Daniel Sasson die Lage im
Nahen Osten […] (und) der Exil-Sudanese Khalid Wad Albaih die gegenwärtige Flüchtlingsproblematik
[…]. Die beiden deutschen Künstler Henrik Schrat und Jan Brokhof nehmen Konsumkult und postkoloniale
Klischees aufs Korn. Von letzterem stammen auch Titelmotiv und Rückseite dieser Grafikfolge“ (S. 32).

ham, 6. Juni 2016

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