Dietrich Reimer Verlag, Berlin, 2013, ISBN 978-3-496-01475-1, 277 S., 105 s/w-Abbildungen,
Broschur, Format 20,5 x 13,5 cm, € 24,95 (D) / 25,70 (A) / SFR 33,90
Auf verstimmte Klaviere trifft man sowohl in bürgerlichen Wohnzimmern als auch in öffentlichen
Räumen. Zerstörte Klaviere trifft man weder da noch dort. Wenn aber doch, werden sie als Schock
erlebt. Mir selber ging es 2002 beim Besuch der Ausstellung von Chiharo Shiota in der Akademie
Schloss Solitude so. Die 1972 in Osaka geborene Schülerin von Marina Abramovic hatte einen in
seiner Oberfläche völlig verbrannten und dadurch geöffneten Flügel, einen angekohlten Klavier- und
weitere angekohlte Stühle mit schwarzen Wollfäden verbunden und dadurch den vormals höfischen
Raum neu definiert. Durch die Verbrennung der Außenhaut kamen die Innereien des Flügels, seine
Konstruktion, seine Verletzlichkeit und seine Vergänglichkeit zum Vorschein. Das um seine Stimme
gebrachte Tasteninstrument war Teil einer auf Stille zielenden Reflexion über Endlichkeit und damit
Ausdruck einer Kunstauffassung, nach der berührende Kunst dann entsteht, wenn Funktion verloren
geht. „Das Klavier verliert seinen Klang, der Maler malt nicht mehr, der Musiker hört auf zu
musizieren. Sie verlieren ihre Funktion aber nicht ihre Schönheit – werden noch schöner“ (Chiharo
Shiota). Die Installation wurde 2003 in erweiterter Form im Württembergischen Kunstverein Stuttgart
gezeigt und hinterließ denselben starken Eindruck. In dem zur Ausstellung erschienenen Katalog
konnte man lesen, dass die Arbeiten von Shiota auch eine Kindheitserinnerung an ein verbranntes
Klavier reflektieren, auf das die Künstlerin nach einer Brandnacht gestoßen war. Die jetzt von Gunnar
Schmidt vorgelegte Untersuchung ordnet Shiotas verbrannte Klaviere in die Geschichte der
Klavierzerstörungen ein, die für ihn mit einer 1862 veröffentlichten anonymen Erzählung von einem
exzentrischen Klavierlehrer beginnt. Dieser Sonderling entpuppt sich als Bilderhasser, als er merkt
dass seine Schülerin Marie beim Klavierunterricht Gefallen an den Schnitzwerken und Bildern findet,
mit denen das Tasteninstrument verziert ist. Er verbringt eine ganze Nacht damit, das Instrument von
diesen Schmuckelementen zu befreien. Zum Schluss bleibt ein zerhacktes und zerkratztes wertloses
Etwas übrig. Eine zweite Station ist für Schmidt mit dem populären amerikanischen Pianisten, Sänger
und Komiker Jimmy Durante verbunden, der eine Silvestergala in den 1920er Jahren mit einer
Klavierzerstörung enden lässt. Weitere Stationen waren unter anderem Mickey-Mouse-Filme von Walt
Disney aus den Jahren 1929 – 32, die in Instrumentendestruktionen münden, der post-dadaistische
Theaterabend der Wiener Gruppe um Konrad Bayer, Oswald Wiener, Gerhard Rühm und Friedrich
Achtleitner im April 1959 und der von Al Hansen 1975 und 1984 aufgeführte Piano Drop von Yoko
Ono. Ein eigenes Kapital ist den 1962 im Wiesbadener Kunstmuseum von George Maciunas
organisierten Konzerten der Internationaler Festspiele neuester Musik gewidmet, in denen George
Maciunas, Emmett Williams, Wolf Vostell, Nam June Paik, Dick Higgins, Benjamin Patterson und
Alison Knowles bei der Aufführung von Philip Corners ‚Piano Activities‘ das für 5 US-Dollar
erstandene gebrauchte Klavier zerstören. Der Komponist hat die Destruktion nicht nur deshalb
abgelehnt, weil sie nicht seinen Vorgaben entsprach, sondern auch weil er sie als „riskante
Artikulation in einer Welt voller Destruktion“ erachtete: >>Die Katharsis wird uns nicht von den
Aggressionen in der Welt erlösen…<< (Philip Corner). 50 Jahre später sind die Akteure der ersten
Fluxus-Generation in der Hochkultur angelangt und werden im Rahmen der im Wiesbadener
Kunstmuseum wieder aufgeführten ‚Piano Activities‘ enthusiastisch gefeiert. „Geschichte erweist sich
als Umwälzmaschine, die aus Revolte eine museale Reminiszenz macht, Anti-Kunst in Kunst
verwandelt und in der Traumata abgearbeitet werden. Die Utopie des freien Spielens, das ein
Versprechen von Fluxus in verengter Welt war, konnte sich ein Stück weit realisieren“ (Gunnar
Schmidt).
Nach dem Urteil von Schmidt muss die Geschichte der Klavierzerstörung nach 150 Jahren neu
bewertet werden. Dem bisherigen kunstwissenschaftlichen Diskurs zufolge „wäre das destruktive
Moment eine selbstreflexive Operation innerhalb des Kunstsystems, mit der nicht mehr als
überkommene Kunstkonzepte infrage gestellt würden, um letztlich das System durch Differenzierung
am Leben zu erhalten. Diese Sichtweise hat sich weitgehend im diskursiven Milieu der
Kunstwissenschaft etabliert. Ihre Dominanz ist wenig verwunderlich, da sich in Künstlerdiskursen
wiederkehrend die Selbstthematisierung als Anti- oder Neukünstler auffinden lässt… Entgegen dieser
Perspektive wird … die destruktive Handlung (von Gunnar Schmidt) als eine Reaktionsform
begriffen, die Auskunft über aus der Realität empfangene Erregungsimpulse und ihre Verarbeitung
gibt“ (Gunnar Schmidt). Verarbeitet werden in der Sicht von Schmidt insbesondere die zerstörerischen
Impulse des kapitalistischen Systems, die sich unter anderem auch in den Krisen der letzten 50 Jahre
gezeigt haben. Der kunstwissenschaftliche Diskurs wird „als kulturwissenschaftliche Affektologie“
(Gunnar Schmidt) weitergeführt. „Affekte, so die These werden in performativen
Ausdrucksbemühungen aufbewahrt, durch sie re-generiert wie auch in ihnen unkenntlich gemacht…
Die symbolische Form gehorcht in ihrem Entstehen und in ihrer Entwicklung nicht nur einer
systemischen Eigenlogik (Gunnar Schmidt), sondern verarbeitet auch zerstörerische Impulse aus
anderen gesellschaftlichen Systemen.
(ham)

Download: Gunnar Schmidt – Klavierzerstörungen in Kunst und Popkultur

 

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