dtv 34812, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2014, ISBN 978-3-423-34812-6, 448 Seiten, Broschur, Einband Karton, Format 21 x 13,4 cm, € 14,90 (D) / € 15,40 (A) / CHF 21,90

Der zwei Jahre nach dem Tod des englischen Historikers als Lizenzausgabe erschienene Sammelband bindet 14 Aufsätze aus den Jahren 1957 – 2010 unter dem Titel Wie man die Welt verändert zusammen, darunter den bisher unveröffentlichten Aufsatz Der Marxismus auf dem Rückzug 1983 – 2000 und den in der vorliegenden Form noch nicht veröffentlichten Aufsatz Marx heute. Letzterer geht auf eine Veranstaltung der Jüdischen Buchwochen in London im Jahr 2007 zurück. Hobsbawm sollte zusammen mit dem Sozialisten Jacques Attali Auskunft auf die Frage geben, welche Bedeutung Karl Marx knapp 20 Jahre nach dem Zusammenbruch der UdSSR zukommt. Für Hobsbawm befand sich Marx nach 1989 im Niemandsland, denn selbst dort, wo die kommunistischen Regime noch überlebt hatten wie in China und in Indien, „gaben sie in Wirklichkeit das alte Vorhaben des leninistisch geprägten Marxismus auf […]. Der Kommunismus hatte für sich in Anspruch genommen, der einzige rechtmäßige Erbe Marx’ zu sein; seine Ideen wurden im Großen und Ganzen mit jenem identifiziert […]. Und doch ist Marx heute zweifellos, einmal mehr, aktuell und ein Denker für das 21. Jahrhundert“ (Eric Hobsbawm S. 14 f.). Zur Begründung verweist Hobsbawm in einem ersten Argumentationsgang auf die Krisen, von denen der Kapitalismus geschüttelt ist. Selbst für die Londoner Financial Times konnte nach dem Oktober 2008 „kein Zweifel mehr daran bestehen, dass Marx erneut die Bühne der Öffentlichkeit betreten hatte. Er wird diese Bühne wohl kaum wieder verlassen, solange der globalisierte Kapitalismus seine schwerste Erschütterung und Krise seit den frühen 1930er Jahren erlebt. Doch zugleich wird der Marx des 21. Jahrhunderts mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein völlig anderer sein als der des 20. Jahrhunderts“ (Eric Hobsbawm S.16), und dies einmal deshalb, weil sich die Welt nicht mehr wie im 19. Jahrhundert in Länder einteilen lässt, die vor und die nicht vor der Revolution stehen.

„Das zweite Moment ergibt sich aus dem ersten: Marx’ Erbe mündet bekanntlich zum einem in eine sozialdemokratische und reformistische, zum anderen in eine revolutionäre, von der russischen Revolution übermächtig beherrschte Traditionslinie. Deutlich wird das 1917, bedingt durch das dritte Moment, nämlich durch den Zusammenbruch des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatten, und das Hereinbrechen einer Epoche, die ich das »Zeitalter der Katastrophe« genannt habe, also die Zeit zwischen etwa 1914 und den späten 1940er Jahren. Jene Krise war so heftig, dass sie viele zweifeln ließ, ob der Kapitalismus sich jemals erholen würde […]. Tatsächlich erholte sich der Kapitalismus, doch nicht in alter Form“ (Eric Hobsbawm S.16 f.). Für Hobsbawm haben das Verschwinden der staatlichen Zentralplanwirtschaften und das faktische Verschwinden der Idee einer grundlegenden Veränderung der Gesellschaft Marx’ Einfluss als Theoretiker der politischen Ökonomie, als Theoretiker und Interpret der Geschichte und als anerkannter Mitbegründer (neben Émile Durkheim und Max Weber) der neuzeitlichen Gesellschaftstheorie gleichwohl nicht geschmälert.

Deshalb kommt seinem Universalismus des Denkens, und dies führt sein zweiter Argumentationsgang aus, im 21. Jahrhundert entscheidende Bedeutung zu. Der „entscheidende Punkt, den Jacques Attali zu Recht hervorgehoben hat, ist der Universalismus des Denkens von Marx. Das ist keine »Interdisziplinarität« im konventionellen Sinn, sondern sein Denken integriert alle Disziplinen. Wie Attali schreibt: »Philosophen vor ihm dachten die Menschheit in ihrer Totalität, doch er war der erste, der die Welt als ein Ganzes begriff, das zugleich politisch, ökonomisch, wissenschaftlich und philosophisch ist«. Manches von dem, was Marx schrieb, ist zweifellos veraltet, und anderes erscheint heute nicht mehr als tragfähig […]. Und dennoch behält eine Reihe zentraler Momente von Marx’ Analyse ihre Gültigkeit und Relevanz. An erster Stelle ist es die Einsicht in die unaufhaltsame globale Dynamik der kapitalistischen ökonomischen Entwicklung, ihre Fähigkeit, alles zu zerstören […]. Zweitens ist die Analyse der Funktionsweise des kapitalistischen Wachstums zu nennen, die darauf beruht, innere »Widersprüche« hervorzubringen, endlose Runden sich aufbauender Spannungen und zeitweiliger Lösungen, eines Wachstums, das zu Krisen und Veränderungen führt; das Ergebnis sind Konzentrationsprozesse in einer zunehmend globalisierten Ökonomie […]. Marx nun war überzeugt, diese Dynamik werde die Aufhebung des Kapitalismus zur Folge haben, eine Vorhersage die in meinen Ohren immer noch plausibel klingt, wenn auch auf andere Art, als von Marx antizipiert. Marx’ Prognose, die Überwindung des Kapitalismus werde sich als »Expropriation der Expropriateure« durch ein gewaltiges Proletariat vollziehen und letztlich zum Sozialismus führen, stützte sich freilich nicht auf seine Analyse der Funktionsweise des Kapitalismus, sondern beruht auf davon unabhängigen Annahmen a priori. Allenfalls steht dahinter die Vermutung, die Industrialisierung werde eine Bevölkerung schaffen, die in ihrer Mehrheit aus körperlich arbeitenden Lohnarbeiten besteht, wie es zu jener Zeit für England zutraf. Eine solche Annahme war für eine Prognose mittlerer Reichweite exakt genug, doch langfristig nicht haltbar, wie wir wissen. Auch Marx und Engels gingen nach den 1840er Jahren nicht davon aus, der Kapitalismus werde zu der politisch radikalisierenden Verelendung führen, die sie zuvor erwartet hatten. Für beide war offensichtlich, dass große Teile des Proletariats nicht im absoluten Sinn verarmten […]. Kurzum, in die Analyse wurden Zukunftserwartungen hineingelesen, die sich keineswegs aus ihr ergaben“ (Eric Hobsbawm S. 23 ff.).

Ein drittes Moment lässt sich mit John Hicks sinngemäß am besten so zusammenfassen dass, wer den allgemeinen Gang der Geschichte nachvollziehen will, »wohl auf marxistische Kategorien oder bestimmte Varianten davon zurückgreifen« wird, »denn es gibt wenig Alternativen, die für so etwas in Frage kämen« (John Hicks nach Eric Hobsbawm S. 26). Hobsbawm bietet also anders, als es der Buchtitel verspricht, keine weltverändernden Lösungen für die Krisen des Kapitalismus an. Aber er geht davon aus, dass man sich die Fragen von Marx stellen muss, wenn man sie erfolgreich lösen will. Der Fokus liegt nicht auf der Weltveränderung, sondern auf der Genese, der Rezeptions- und der Wirkungsgeschichte des Marxismus. Ein Aufsatz beschäftigt sich mit Gramsci und einer mit der Gramsci-Rezeption. Der Band schließt mit einem Kapitel über die organisierte Bewegung der Arbeiterklasse.

ham, 7.2.2016

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