Aug 29

America America, How real is real?

Von Helmut A. Müller | In Katalog, Kunst

Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 9. Dezember 2017 bis 21. Mai 2018 im Museum Frieder
Burda, Baden-Baden, herausgegeben von Helmut Friedel für die Stiftung Frieder Burda mit Beiträgen von
Judith Irrgang, Christoph Neuberger, Heribert Prantl, Christiane Righetti, Brigitte von Stebut, dem
Herausgeber und einem Vorwort von Frieder Burda

Museum Frieder Burda, Baden-Baden / Edition Cantz, Esslingen, 2017, ISBN 978-3-942924-28-3,
180 Seiten, 150 Abbildungen, Hardcover gebunden mit Leinenbezug, Format 28,5 x 23,5 cm, € 38,00

Der Kurator von ›America! America!‹ Helmut Friedel, hat es nach Adrienne Braun einmal mehr verstanden,
„mit einigen Weichenstellungen und einem thematischen Rahmen unmittelbaren Zugang“ zu den rund 70
Werken der Ausstellung „zu ermöglichen und einen Dialog zwischen Betrachtern und Arbeiten zu
initiieren“ (vergleiche dazu Adrienne Braun, Polierte Fassaden und das Leben dahinter, Stuttgarter Zeitung
Nr. 288, 14. 12. 2017, S. 32). Die Mehrzahl der Arbeiten stammt aus den Sammlungsbeständen von Frieder
Burda, Siegfried und Jutta Weishaupt und Josef Fröhlich. Dazu kommen Arbeiten unter anderem aus der
Nationalgalerie Berlin, dem MMK Frankfurt, dem Lenbachhaus München der Albertina Wien und dem
Kunstmuseum Wolfsburg. Für Frieder Burda zeigen Arbeiten wie Andy Warhols ›Big Electric Chair‹ von
1967, Robert Longos ›Untitled [Caliber Pearl Handle Revolver]‹ von 2007 und Michael Ray Charles
›[Forever Free] The Greatest Show on Earth‹ von 1999 (vergleiche dazu http://www.artnet.com/artists/
michael-ray-charles/forever-free-the-greatest-show-on-earth-a-6VGFsitZQsHyk8xSLmmsCg2), dass die
amerikanische Wirklichkeit nicht nur für Freiheit, Modernität und Fortschritt steht, sondern mit der
Todesstrafe, seinen Waffengesetzen und seinen Rassenproblemen auch eine Kehrseite hat, „die nicht nur
glänzend, glücklich und frei ist“ (Frieder Burda S. 7).

Deshalb war es im Frühjahr 2017 beim Nachdenken über die Konzeption der Ausstellung an der Zeit,
William N. Copleys Aufforderung von 1972 „Think“ ernst zu nehmen: Copley hatte auf seiner
Amerikaflagge die 50 Sterne, die die amerikanischen Bundesstaaten symbolisieren, durch das Wort
»THINK« ersetzt (vergleiche dazu etwa https://www.swr.de/swr2/kultur-info/ausstellung-america-museumfrieder-
burda/-/id=9597116/did=20772248/nid=9597116/1n0jna2/index.html) – und Helmut Friedel hat sich
unter dem Eindruck der von der neuen Trump-Regierung ausgelösten Irritationen für narrative und nicht für
abstrakte Arbeiten entschieden.

Zu den Arbeiten, die die psychopathologischen Abgründe Amerikas am offensichtlichsten thematisieren,
gehören Robert Longos ›Untitled (Exterior Apartment Door With Nameplate and Peephole, May 1938), 2002
und ›Untitled (Interior Apartment Frontdoor With Bars, 1938)‹, 2000 (vergleiche dazu https://
www.robertlongo.com/series/freud/), Vanessa Beecrofts ›VB 55-01‹, 2005 (vergleiche dazu https://
www.dailymotion.com/video/x66xxl6) und Nan Goldins Fotoserie ›Gilles and Gotscho, Paris‹, 1991 – 1993 /
96 (vergleiche dazu https://www.google.de/search?
q=goldin+nan+photography&tbm=isch&source=iu&ictx=1&fir=LD9kELV4pxxbSM%253A%252CReUtM
BHtgAj4MM%252C_&usg=AFrqEzdmyZUYkXxIcdhWdtsAms7xoNc5fg&sa=X&ved=2ahUKEwifo6a21
Y_dAhVRYVAKHS2SA6gQ_h0wEHoECAYQFQ#imgrc=PxuI-VB9ELn2JM:):

Sigmund Freuds mit Doppelgitterstäben bewehrte Haustüre könnte in der Arbeit von Longo dafür stehen,
dass alles, was zwischen Klient und Therapeut im therapeutischen Rahmen und auf der Couch besprochen
worden ist, hinter verschlossenen Türen bleiben sollte. Vanessa Beecrofts aufs engste mit ihrer Biografie und
Persönlichkeit verknüpftes Werk ist nur zu verstehen, wenn man sich mit ihrer Familiengeschichte und ihren
in vielen Interviews offenbarten Essproblemen auseinandersetzt. „Beecroft sieht sich nicht als Frau, findet
sich nicht attraktiv und hält es schlicht mit eigenen Äußerlichkeiten. Wie sie selbst sagt, sind die Mädchen in
ihren Tableaux Vivants ihr Alter Ego, mit denen sie sich identifiziert und zum Publikum spricht. Sie kann mit
diesem Griff ihren Wunsch nach Kontrolle über Schönheit ausleben, ihre Idealtypen – und damit sich selbst –
in Szene setzen“ (Judith Irrgang S. 147). In ihrer Performance ›VB 55‹ lässt sie dagegen einen scheinbaren
Querschnitt von Frauen aus Berlin ohne die in den vorausgegangenen Performances bestimmende Auswahl
nach äußerlichen Schönheitskriterien auftreten. „Der formalen Strenge der Anordnung der Frauen im Raum
folgt hier ein Zugeständnis an Freiheit, der zufolge die Frauen sich zeigen, wie sie es möchten“ (Helmut
Friedel S. 12). „Eine Welt, in der es nur noch um Oberflächen geht, widert Beecroft im Grunde an, dennoch
kann sie sich ihrer Faszination nicht entziehen, weshalb sie sich dem Reglement der Zero-Size-
Luxusmodeindustrie unterwirft und daran leidet; sie bleibt ihr Opfer, möchte es vielleicht sogar sein“ (Judith
Irrgang S. 151). Nan Goldin schließlich zeigt schonungslos und direkt, dass sexuelle Freiheit im Zeitalter von
Aids aufs Totenbett führen kann.

ham, 28. August 2018

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