Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020, ISBN 978-3-8031-3701-2, 160 Seiten, Broschur, Format 15 x 11 cm, € 10,00 (D) / € 10,30 (A)

Der 1967 in München geborene, bis 2015 an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe Kunstwissenschaft und Medientheorie lehrende und seit 2015 als freier Autor publizierende Kunsthistoriker und Kritiker Wolfgang Ullrich ist immer für eine Überraschung gut. Das zeigt sich nicht nur an seinem Ausstieg aus seiner bestens bezahlten Karlsruher Professur und seinem Sprung ins kalte Wasser eines freien Autors und Kritikers, sondern auch an seiner grundsätzlichen Kritik an Künstlergrößen wie Gerhard Richter, Katharina Grosse und Philipp Ruch vom Zentrum für Politische Schönheit, an neufeudalen Machtstrukturen in der Kunstwelt, an kunstreligiösen Überhöhungen und an irrationalen Preisen für Werke von Künstlerstars. Mit seinem 2020 veröffentlichten Band ›Feindbild werden‹ ist ihm die nächste Überraschung gelungen.

Der Hintergrund stellt sich etwa wie folgt dar: 2019 hatte Ullrich in der Wochenzeitung „Die ZEIT“ vom 16. Mai seine These von der Rechtsverschiebung von Teilen der Kunstwelt unter anderem mit einigen Zitaten von Neo Rauch belegt. Der sieben Jahre ältere Leipziger hatte noch im Juni 2019 mit der Veröffentlichung seines 150 x 120 cm großen Gemäldes ›Der Anbräuner‹ in der ZEIT geantwortet (vergleiche dazu https://www.google.de/search?q=neo+rauch%2C+der+Anbr%C3%A4uner&tbm=isch&ved=2ahUKEwjOh8H-wpbtAhUZwQIHHb15BgAQ2-cCegQIABAA&oq=neo+rauch%2C+der+Anbr%C3%A4uner&gs_lcp=CgNpbWcQDFCY1QFYloICYJnxA2gAcAB4AIABXogB8AGSAQE

zmAEAoAEBqgELZ3dzLXdpei1pbWfAAQE&sclient=img&ei=SIu6X87DM5mCi-gPvfMZ&bih=887&biw=1399#imgrc=R_Pb-w0C4aZxrM). Ullrich hat lange hin und her überlegt, ob er überhaupt reagieren soll oder nicht. Er hat sich dann doch für das Schreiben des Buches ›Feindbild werden‹ entschieden, weil Rauchs Feindbild Dynamiken provozieren könnte, „die man schlimmstenfalls nicht mehr kontrollieren kann“ (Wolfgang Ullrich S.10) und weil er aus dem Streit etwas Konstruktives machen wollte (vergleiche dazu https://www.swr.de/swr2/kunst-und-ausstellung/feindbild-werden-kuenstler-neo-rauch-gegen-kunstkritiker-wolfgang-ullrich-100.html). Seine in dem Satz „Weil ich zum Feindbild geworden bin, will ich es nicht bleiben“ (Wolfgang Ullrich a. a. O.) zusammengefasste Reaktion hat es in sich. 

Herausgekommen ist keine Abrechnung, sondern eine eindringliche kritische Würdigung von Rauchs Gemälde, die alle nur denkbaren ästhetischen, sozialen, politischen und persönlichen Hintergründe erfasst, die Ullrich als hochgebildetem Kritiker zugänglich sind und in das Gemälde eingeflossen sein könnten. Bei seiner Interpretation geht Ullrich von der prinzipiellen Offenheit und Mehrdeutigkeit von Bildern aus und überlegt, ob der Künstler nicht ihn, sondern sich selbst oder vielleicht auch den Vorsitzenden des Staatsrats der DDR Walter Ulbricht dargestellt haben könnte. Er wird sich aber immer mehr sicher, dass Rauch mit dem ›Anbräuner‹ ihn als seinen Kritiker meint. Nach Ullrichs Interpretation zeigt das Gemälde eine mit einem altmodischen Wams bekleidete männliche Figur mit heruntergezogener Hose, die auf einem Leibstuhl Platz genommen hat. „Sie hebt den Hintern leicht, um ihren Kot mit einem Pinsel aufzufangen, muss sich aber zugleich bücken, weil der Raum sehr niedrig ist, als wäre er nur ein Abort. Der Rest der Exkremente fällt in einen Nachttopf, auf dem Boden lagern weitere bereits gefüllte Gefäße; andere Materialien stehen dem hier gezeigten Maler offenbar nicht zur Verfügung. Man mag sich den Geruch in dem engen Raum kaum vorstellen, in dem es lediglich an der hinteren Wand ein kleines Fenster zum Lüften zu geben scheint. Durch dieses blickt, wie eine Chimäre und unbemerkt vom Maler, eine Hitler-Fratze. In ihre Richtung grüßt mit erhobenem Arm eine schemenhafte, ihrerseits mit den Zügen von Hitler versehene Figur, die der Maler auf die Leinwand gepinselt hat, auf der sonst nur die Initialen meines Namens stehen“ (Wolfgang Ullrich S. 33).

In seine Interpretation fließen neben Verweisen auf kunsthistorische Vorläufer wie die anonyme  Karikatur ›Émile Zola als mit Kot malendes Schwein‹ (vergleiche dazu https://www.google.de/search?sxsrf=ALeKk02peigrt8izgKrAVsXOuYQ27jLUmw:1606109465527&source=univ&tbm=isch&q=mus%C3%A9e+des+horreurs&sa=X&ved

=2ahUKEwiJzaaB-JftAhWO2aQKHQyXABYQ420oBHoECAYQDA&biw=1399&bih=887#imgrc=zm3dvSX9MNAH_M) unter anderem auch Ullrichs Nachdenken über Wunden und Verletzungen ein, die bei der Wiedervereinigung entstandenen und dreißig Jahre später noch kaum verheilt sind. Weiter sein verhaltener Kommentar zu der These, dass das wiedervereinigte Deutschland die DDR 2.0 sei, seine Beobachtung, dass die lange Jahre für grundlegend gehaltene Vorstellung von der Autonomie der Kunst von linken Intellektuellen und einer jüngeren Kuratorengeneration zunehmend kritisch gesehen und verstärkt von Rechten aufgegriffen wird und natürlich auch der jüngere Diskurs über die Aufgabe und die Grenzen der Kunstkritik. Dass das Gemälde „Der Anbräuner“ am 27. Juli 2019 bei einer Benefizgala von dem Immobilienunternehmer Christoph Gröner für 550 000 € ersteigert und nach einer zusätzlichen Spende für letztlich 750 000 € erworben worden ist (vergleiche dazu https://www.zeit.de/2019/32/neo-rauch-der-anbraeuner-versteigerung-auktion-exkremente-bild?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.de und https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/kuenstler-neo-rauch-zur-debatte-ueber-den-maler-16317918.html), hält Ullrich nicht davon ab, über den Überwachungskapitalismus, die Rolle westdeutscher Unternehmer bei der Zerstörung gewachsener ostdeutscher Strukturen (vergleiche dazu Wolfgang Ullrich S. 128) und die Auswüchse des immer noch kunstreligiös grundierten Kunstmarkts nachzudenken:

„So zwielichtig die Versteigerung des Anbräuners gewesen sein mag, so deutlich fungierte sie aber zugleich als ein Signal der Normalisierung. Immerhin hatte das Gemälde einen für Rauch üblichen Preis erzielt … und der Künstler selbst war inmitten von Prominenten … von dem Verdacht befreit, jemand zu sein, um den man wegen seiner Ansichten lieber einen Bogen macht … Das Starsystem erwies sich also als stabil … Dass die Werke berühmter Künstler so teuer sind, sorgt aber nicht nur für eine ehrfurchtgebietende Aura. Vielmehr bedeutet es zugleich, dass jeweils einzelne Käufer die gesamte große Summe gezahlt haben, ihnen also auch daran gelegen sein muss, ihr Geld möglichst gut investiert zu haben. Sie verfolgen die Preisentwicklung, und soweit es in ihrer Macht liegt, versuchen sie auch, sie zu beeinflussen, zumindest aber zu verhindern, dass der Markt nachgibt. Alles, was das Image eines Künstlers wie Neo Rauch beeinträchtigen könnte, ist aus ihrer Sicht eine Gefahr, die es zu minimieren gilt. Daher lässt man Kontakte spielen, betreibt Netzwerkpflege im Hintergrund, baut vielleicht sogar Druck auf. Infolge der Interessenpolitik derer, die insgesamt mehrere hundert Millionen in seine Werke angelegt haben, ist ein Künstler wie Neo Rauch somit sehr viel besser geschützt als sämtliche Schriftsteller … Da sie generell dem Wort verpflichtet sind, sollen Schriftsteller sich also auch besonders vernünftig und reflektiert äußern, am liebsten zudem in Essays und zeitdiagnostischen Texten. Bilder sind demgegenüber freier und unverbindlicher … 

Vielleicht gab es in der ganzen Kunstgeschichte kaum einmal freiere Menschen als die erfolgreichen Künstler der letzten Jahrzehnte. Wie viele andere auch profitieren sie von der Liberalität demokratisch-aufgeklärter Wohlstandsgesellschaften, hatten aber zusätzlich das doppelte Glück, einerseits noch in den Genuss der Traditionsreste kunstreligiöser Verehrung zu kommen und andererseits aufgrund des lange anhaltenden Booms auf dem Kunstmarkt sowie dank exorbitanter Preise für ihre Werke als große Autoritäten anerkannt zu sein. Alles zusammen verschaffte ihnen ein außergewöhnlich hohes Maß an Unabhängigkeit und Immunität. Diese Phase aber scheint vorüber zu sein. Kunstreligiöse Topoi werden zunehmend gründlicher hinterfragt, die Globalisierung des Kunstbetriebs lässt andere, nicht-westliche Konzepte von Kunst einflussreicher werden, der Wohlstand wurde für manche bereits durch die Finanzkrise labil und dürfte für sehr viele mehr erst recht infolge der Corona-Krise bedroht sein“ (Wolfgang Ullrich S. 128 ff.). 

Eine Aussprache zwischen Wolfgang Ullrich und Neo Rauch ist trotz vielfältiger Vermittlungsversuche bisher am Widerstand von Neo Rauch gescheitert. Trotzdem hofft Ullrich auf eine Zukunft, „in der man Neo Rauchs  Gemälde würdigen wird, weil es – qua Bild – dazu beitragen konnte, einen spezifischen Ost-West-Konflikt sichtbarer zu machen“ und „an einen dann endlich überwundenen Konflikt erinnert“ (Wolfgang Ullrich S. 137).

ham, 23. November 2020

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