Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliothek Band 90

Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2022, ISBN 978-3-8031-5190-2, 192 Seiten, 40 teils farbigen Abbildungen, Klappenbroschur, Format 21,5 x 13,6 cm, € 22,00

Die Diskussion über mutmaßliche und tatsächliche Arbeiten mit antisemitischen Inhalten hat die Rezeption der documenta 15 über Wochen beherrscht. Darüber ist die von Noemi Smolik im Kunstforum 283 gestellte Frage, ob die Ausrichtung der diesjährigen Weltkunstausstellung durch das indonesische Kurator☀︎innenkollektiv ›ruangagrupa‹ ein Indiz dafür ist, ob der moderne Kunstbegriff nur eine kurze Episode war, mehr oder weniger untergegangen (vergleiche dazu Noemi Smolik, War der moderne Kunstbegriff nur eine kurze Episode? A. a. O. S. 84 – 89). Smolik kommt zum Ergebnis, dass die Künstler☀︎innen des globalen Südens unter dem Begriff „Kunst“ etwas anderes verstehen als die modernen Traditionen und dass das zu zeigen der wichtigste Beitrag dieser Documenta war. „Schließlich deutet sich auch im Westen eine Verschiebung dieses Begriffs an. Davon zeugt zum Beispiel die Begeisterung für die performativen, rituell strukturierten, auf gemeinsame Erfahrungen orientierten Auftritte der Künstlerin Anne Imhof“ (Noemi Smolik a. a. O. S 89). 

Ihr Fazit: Vielleicht ist der moderne Kunstbegriff nicht nur eine lokale Erscheinung, weil auf den globalen Norden beschränkt, sondern auch, weil er in der Geschichte der Menschheit nur eine kurze Episode war und auch im Norden an seine Grenzen gekommen zu sein scheint (vergleiche dazu Noemi Smolik a. a. O.).

Wolfgang Ullrich hat diese Diagnose schon im Frühjahr 2022 und damit vor dem Beginn der documenta 15 in seiner Abhandlung ›Die Kunst nach dem Ende der Autonomie‹ vorweggenommen. Demnach hätten sich der Begriff und die Praxis der autonomen Kunst erschöpft und entleert, „worauf reagiert wurde, indem man die Kunst mit Qualitäten anderer Bereiche neu auflud. Damit gab man aber auch das Autonomie-Ideal preis“ (Wolfgang Ullrich S. 27). Mit der Globalisierung der Institutionen des Kunstmarkts und des kuratierten Ausstellungsbetriebs sei die Veränderung der Kunst zum Markenprodukt und die Orientierung an über die Kunst hinaus relevanten Diskursen, Höchstpreisen und Fanclubs einhergegangen. Damit seien die Grenzen zwischen Kunstwerken und Artefakten flüssig und vor allem auf Konsum und Aktivismus ausgerichtet worden. Als Beispiel dient Ai Weiweis 2017 in Prag, 2018 in Sydney und 2020 in Bangkok gezeigte Plastik ›Low of the Journey‹, die das Elend der Flüchtlingskrise mit einem rund 70 Meter langen Schlauchboot und aufblasbaren Figuren thematisiert (vergleiche dazu https://artpil.com/news/law-of-the-journey-ai-weiwei/). In seiner Düsseldorfer Ausstellung hat er dann 40 Kleiderständer mit gewaschenen Kleidungsstücken von Flüchtlingen unter dem Titel ›Laundromat / Waschsalon‹ ausgestellt, die Kleider mit einer Fototapete mit 17 232 Fotos und einem Schiff aus Bambus kombiniert und damit an die zwischen 1. 12. 2015 und 9. 08. 2016 aus Syrien, Afghanistan, Somalia und Eritrea Geflüchteten erinnert (vergleiche dazu https://www.kunstsammlung.de/de/collection/artists/ai-weiwei). 

Der 2017 auf der New Yorker Auktion von Christie’s für 450 000 000 Dollar versteigerte Leonardo zugeschriebene ›Salvator Mundi‹ steht für den Übergang von Kunst zur globalisierten Marke und die Vermischung von Kunst und Markt (vergleiche dazu https://www.barnebys.de/blog/verkauft-leonardo-da-vincis-salvator-mundi-ist-das-teuerste-gemalde-der-welt). 2018 wurde Leonardos ›Salvator Mundi‹ von dem amerikanischen Maler und Illustrator Mark Ryden in ein niedliches Wesen zwischen Mensch und Tier mit großen Kulleraugen verwandelt und so zur gut verkäufliche Ware für den ostasiatischen Markt hergerichtet (vergleiche dazu https://www.markryden.com/salvator-mundi). Dem vergleichbar bedient Jeff Koons mit seiner Louis Vuitton –Taschen – Edition das Unterscheidungsbedürfnis einer Klientel, die sich diese Taschen leisten kann (vergleiche dazu https://www.eppli.com/louis-vuitton-louis-vuitton-weekender-keepall-50-bando-masters-jeff-koons-da-vinci.html). Modelabel und Kunst treffen sich in der neu kreierten Marke, die mit den Logos von Vuitton, Koons und den Namen der Großkünstler werden zum Luxuslabel werden. Damien Hirst geht noch einen Schritt weiter, wenn er von acht Bildern seiner Kirschblütenserie so viele Fotodrucke herstellen lässt, wie in sechs Tagen nachgefragt werden und sie für je 3000 Dollar zum Verkauf anbietet (vergleiche dazu https://www.1stdibs.com/de/kunst/druckgrafiken-und-multiples/landschaftsdrucke/damien-hirst-die-tugenden-politität-limitierte-auflage-kirschblüte-landschaft/id-a_10788892/?currency=eur&gclid=EAIaIQobChMI-76Yu7aA-gIVcZBoCR3cigAnEAQYASABEgJuAfD_BwE&gclsrc=aw.ds). Er kann die vorbestellten signierten Fotodrucke in 67 Länder losschlagen und dabei über 22 Millionen Dollar einstreichen. Hirsts Kirschblütendrucke sind zugänglich, unverfänglich und populär; sie streicheln den Besitzerstolz und richten sich nicht mehr nach den Idealen der Autonomie, sondern nach dem Geschmack eines Massenpublikums (vergleiche dazu https://www.monopol-magazin.de/damien-hirst-cherry-blossoms-paris-fondation-cartier-kirschblueten-als-beruhigungsmittel).

Nach Wolfgang Ullrich wird damit das klassische Erwartungsprofil gegenüber Kunst und Kunstrezipienten überwunden. In der Folge ergibt sich eine nahtlose Verbindung von Boutique und Galerie, Mode und Malerei, Autonomie und Kommerzialität, freien Formen und Gebrauchsdesign, künstlerischem Anspruch und momentanem Spektakel, Massen- und Hochkultur (vergleiche dazu Thomas Hecken Avant-Pop. Von Susan Sontag über Prada und Sonic Youth bis Lady Gaga und zurück. Berlin 2012 ⟨Posth Verlag⟩ und Wolfgang Ullrich: Art goes Pop. Über Trans­for­ma­ti­o­nen der bilden­den Kunst.). Der Konsum und die Massenkultur werden nicht mehr kritisiert, sondern überhöht. Art Toys wie die von KAWS (vergleiche dazu https://www.artsy.net/collection/kaws-toys) ziehen in private Schauräume und in Museen ein (vergleiche dazu https://museoarttoys.com) und generieren eine dort und in den sozialen Medien eine Aufmerksamkeit, an der sich entscheidet, in welche Richtung sich die Kunst der Marktführer weiterentwickelt.

Für Ullrich hat der in der westlichen Moderne vorherrschende Begriff der Kunst „dazu geführt, dass vieles von vornherein zu Nicht-Kunst abgewertet wurde, dass aber zugleich alles den Regeln der Rezeption zu folgen hatte. Was andere Formen des Besitzens, jenseits des westlichen Modells des Hortens, bedeuten können, wurde ignoriert, und die am höchsten bewerteten angesehenen Artefakte der eigenen Kultur – Kunstwerke – waren rein fürs Auge gemacht. Das von ihnen erhoffte Transzendieren schien nur so erreichbar, zugleich wollte man die Kunst auf diese Weise streng getrennt von der Profanität alltäglichen Lebens halten. Der an einem monotheistischen Religionsverständnis orientierte westlich-moderne Werkbegriff spekulierte auf Unendlichkeit und Erlösung, der Künstler wurde als gottbegnadetes Genie betrachtet, sein Werk als Gottes Werk: unergründlich und mächtig.

Postautonome Artefakte stellen das alles infrage. In ihnen geht es nicht um Absolutheit und damit auch nicht um Reinheit. Sie leben von Mischungen, Verbindungen, Kooperationen – von der Fiktion, das Beste verschiedener Welten lasse sich kumulieren, vom Glauben, etwas könne umso stärker und robuster werden, je mehr Aspekte bedacht werden, je mehr Kriterien berücksichtigt sind. So entwickelt sich gerade eine neue Dingkultur, deren Möglichkeiten erst in Umrissen erkennbar werden. Und es spricht einiges dafür, dass der historische Sündenfall der westlichen Modernen an ein Ende gekommen ist“ (Wolfgang Ullrich S. 172 f.). 

In seinem Zeit-Artikel ›Die Kunst, keine zu sein‹ 19. August 2022 zur Documenta 15 zitiert Ullrich Bazon Brock, der der documenta fifteen vorwirft, „die Kunst liquidiert“ zu haben (vergleiche dazu und zum Folgenden https://www.zeit.de/kultur/kunst/2022-08/documenta-fifteen-ausstellung-kunst-kultur). „Man habe ›das europäische Prinzip der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit‹ preisgegeben, ja die documenta sei ›ein triumphales Zeugnis für das Beenden der westlichen Idee von Autorität durch Autorschaft‹. Bedeutete diese Idee, dass ›ein Individuum sich … gegenüber dem Überdruck der Macht der Kollektive, der Machtkomplexe von Kapital bis Kirche behaupten‹, also von den Leitinstanzen der jeweiligen Kultur lossagen konnte, so geraten Künstler, die nicht mehr autonom agieren, gemäß Brock in den Strudel von Ideologien. Die ›Re-Faschistisierung, … Re-Totalisierung und Re-Fundamentalisierung‹ der Kunst aber habe System, so Brock weiter, immerhin unterjochen Machthaber aller Couleur damit einen starken Gegner. Eine mit anderem gemein gemachte, zur beliebigen kulturellen Praxis degradierte Kunst besitzt also höchstens noch fremde Autorität; sie wird zum Opfer willkürlicher Kräfte. Angesichts dessen, was in Kassel passiere, könne man also, so Brock, ›nicht mehr davon absehen, prononciert Stellung zu beziehen. Jeder ist jetzt aufgefordert, sich zu entscheiden: Gehört man zu den Kulturalisten, die alles vernichten, was überhaupt je Autorität durch Autoren und Wissenschaftler gewesen ist?‹ Oder aber ist und bleibt man – so wäre im Sinne Brocks zu ergänzen – Autonomist?“ (Bazon Brock nach Wolfgang Ullrich a. a. O.).

Jonathan Meese hat dieses Statement wohl zum Anlass eines achtseitigen Manifests genommen, in dem auch er Kunst und Kultur voneinander abgrenzt und die Frage beantworten will, warum Kunst keine Kultur ist: „Wer Kunst will, will die hemmungslose Zukunft. Wer Kultur will, will nur die Absicherung des Gesterns! Kunst ist der BLITZ der Zukunft, Kultur ist Klientelideologie von gestern! Wer Kunst riskiert, erzeugt Zukunft! Wer Kultur ohnmächtigst schleimt, ist nur Verwaltungsrepräsentant von Gestern!“ (Jonathan Meese nach Wolfgang Ullrich a. a. O.). Meese muss sich nach Ullrich aber „den Einwand gefallen lassen, mit derartigen Formulierungen seinerseits eher Gestriges – einen Sonderstatus für Kunst – absichern zu wollen. Und machen er, Brock und andere Autonomisten es sich nicht zu einfach, wenn sie so tun, als lasse sich die Kunst als schöner, heroischer Sonderfall isolieren, ja als stehe sie, wie es Meese in seinem Manifest formuliert, ›über den Dingen‹ – vor allem über feigen Bürokraten und machtversessenen Ideologen? Abgesehen davon, dass man kaum umhinkommt, Kunst in religiös-absolutistischen Kategorien zu fassen und damit wiederum zu ideologisieren und zu fundamentalisieren, wenn man sie jeglicher Kultur als überlegen ausgeben will, mutet es naiv an, zu suggerieren, dass die postulierte Autonomie der Kunst keine Folgen für andere Lebensbereiche hat … 

Vielleicht passiert mit der Kunst … genau das, was sich der US-amerikanische postmoderne Pragmatist Richard Rorty in seinem letzten Buch für die Philosophie gewünscht hatte. Unter dem Titel Philosophie als Kulturpolitik (2007) sprach er sich gegen die Vorstellung aus, die Philosophie sei ein klar abgezirkelter Bereich von besonderer Bedeutung, ja habe privilegierten Zugang zu Wahrheit und Weisheit. Für ihn war diese Vorstellung nicht nur vermessen, sondern führte auch dazu, dass man die Philosophie von ihrer möglichen Wirksamkeit abschnitt. Für ihn galt daher: ›Je mehr es zu Wechselwirkungen zwischen der Philosophie und anderen menschlichen Tätigkeiten kommt, desto größer wird ihre kulturpolitische Relevanz.‹ Diese bestand für ihn etwa darin, dass Philosophen ›Veränderungen im Gebrauch unserer Wörter vorschlagen und neue Wörter in Umlauf bringen‹, um so ›dazu beizutragen, dass wir glücklicher, freier und flexibler werden‹. Und im Gegenzug bilanzierte er: ›Je mehr die Philosophie nach Autonomie strebt, desto weniger Aufmerksamkeit verdient sie.‹ Wer will, dass die Kunst die Gesellschaft durchdringt, dass sie Kontroversen auslöst und so zur Überwindung blinder Flecke beiträgt, kann also Rortys Resümee direkt übernehmen und braucht nur die Vokabel ›Philosophie‹ auszutauschen. Aber wer weiter an die Autonomie glaubt, wird in einer noch so stark wachsenden gesellschaftspolitischen Relevanz der Kunst trotzdem nur einen Verlust sehen können“ (Wolfgang Ullrich a. a. O).

ham, 6. September 2022

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