Sarah Schrimpf, Tebah, 2020,Fotografie, fine Art Print, 65 x 98 cm

 

Eröffnung Sarah Schrimpf, BRÛLE POUR POINT. Fotografien

Nordheimer Scheune, 16. Oktober 2021 – Auszug –

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

liebe Freundinnen und Freunde der Ausstellungen in der Nordheimer Scheune,

wer sich in die Geschichte und Gegenwart der Fotografie und ihre Stellung in der Kunst einarbeitet, wird unter anderem auf das ab 1826 von Joseph Nicéphore Niépce und Louis J. M. Daguerre entwickelte fotografische Verfahren der von der Camera obscura aufgefangenen Bilder stoßen, nach dem das Foto abbildet oder einen Sachverhalt darstellt, der durch das Objektiv der Kamera gesehen worden ist. Weiter auf die von dem Maler Christian Schad 1918 aufgegebenen experimentellen fotografischen Versuche auf lichtempfindlichen Papier ohne Kamera und auf das von László Moholy-Nagy entwickelte Fotogramm, dessen Formen unmittelbar aus den Gegenständen hervorgehen, die er auf das fotografische Material gelegt hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg kommt er ganz sicher nicht an der an der Düsseldorfer Kunstakademie angesiedelten Fotoschule der Fotografen Bernd und Hilla Becher vorbei, aus der bedeutende Fotografen wie Andreas Gursky, Candida Höfer, Jörg Sasse, Thomas Ruff und Thomas Struth hervorgegangen sind. Die heute an der Kunsthochschule Mainz künstlerische Fotografie lehrende Judith Samen hat in der Schwegler-Klasse in Düsseldorf studiert.

Wer heute Fotografie studieren will, hat die Qual der Wahl. Fotografie wird unter anderem an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig gelehrt. Dort ist man überzeugt, dass sie das populärste Bildmedium unserer Zeit ist und zugleich auch ein wichtiges Instrument der künstlerischen Diskussion. In der Folkwangschule Essen lehrt man die Grundlagen der Fotografie, Dokumentarfotografie, Fotografie und Konzeption, Fotografie und zeitbasierte Medien, künstlerische Fotografien und Theorie und Geschichte der Fotografie. Judith Samen will in Mainz mit den künstlerischen Potenzialen des Mediums Fotografie vertraut machen und die Studierenden in die Lage versetzen, individuelle künstlerische Fragestellungen zu entwickeln und diese praktisch zu verwirklichen. Ricarda Roggan will an der ABK Stuttgart darauf Acht geben, dass sich ihre Studierenden kein Weltbild machen. Und Michael Hofstetter, einer der Lehrer von Sarah Schrimpf an der ABK München, setzt auf den sonst eher in der Philosophie oder in der theologischen Betrachtung traktierten existentiellen Sinn der Fotografie. Ihm geht es weniger um das bildästhetische Verfahren, weil er mit Siegfried Kracauer damit rechnet, dass wir uns unsere Welt in der Fotografie so zurechtlegen könnten, wie wir sie sehen wollen und dann Fiktion und Realität nicht mehr unterscheiden. Deshalb leitet Hofstetter dazu an, das fotografische Verfahren und seinen Kontext zu reflektieren. In dem von Hofstetter geforderten und geförderten Reflexionsprozess wird die Produktion von Fotografie in den Blick genommen, weiter ihre Rezeption, ihre Präsentation in den Ausstellungsräumen und ihre weitere Verwertung. 

Der Wert einer Fotografie hängt für ihn, wenn ich ihn richtig verstehe, nicht daran, ob sie mit einer analogen Hasselblad 6 x 6 oder einer hochwertigen Digitalkamera gemacht worden ist, nicht daran, ob sie riesig ist wie eine der Fotografien von Gursky oder klein- oder mittelformatig und schließlich auch nicht daran, welche Preise sie auf dem Markt erzielen. Ob eine Fotografie bei einer Auktion einen Spitzenpreis von 

4 338 500 Dollar erzielt wie Gurskys ›Rhein II‹ oder vielleicht in Zukunft sogar einmal eine noch höhere Rekordsumme wie dieser Tage Banksy „Girl with Ballon“ spielt für ihn keine Rolle. Banksys Ballon-Mädchen hatte 2018 bei seiner ersten Versteigerung 1,1 Millionen Pfund erzielt und war unmittelbar nach dem Zuschlag teilweise geschreddert worden. Angeblich wollte Banksy damit auf die Absurditäten des Kunstmarktes aufmerksam machen. Bei seiner zweiten Versteigerung im Oktober 2021 hat die geschredderte Arbeit dann 16 Millionen Pfund erzielt. Entscheidend für Hofstetters Verständnis von künstlerischer Fotografie ist nicht der Preis, sondern die Frage, ob sie die Kraft hat, die Dinge im gesetzten Kontext zu verrücken. Damit kommen ihre Nicht-Identifizierbarkeit und ihre Deutungsfülle in den Blick. „Die Wirklichkeit der Kunstwerke ist … nicht ihr Marktpreis, sondern ihre Kraft als Möglichkeit, die Dinge im gesetzten Kontext zu verrücken und damit ihre Nicht-Identifizierbarkeit und Deutungsfülle je neu in den Blick zu rücken“ (Karin Hutflötz: Michael Hofstetter, Upcycling, 2013. In: Annegret Laabs und Uwe Gellner ❨Hrsg.❩: daily memories. Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen Magdeburg, 2015, S. 60).

Die 1991 in Schwäbisch Hall geborene Sarah Schrimpf setzt genau an diesem Punkt an. Sie sagt, sie habe bei jemandem studiert, der davon ausgeht, dass die Utopie der Moderne mit ihrem entkontextualisierten Autonomieprinzip in die Dystopie kippt und sich dieses Kippen in der Fotografie zeigt. Wenn für den geschredderten Banksy dieser Tage bei der Sotheby’s-Auktion 18,89 Millionen Euro bezahlt worden sind, ist am System etwas faul. 

Schrimpf setzt nicht auf hohe Preise, sondern auf Bilder, die ihre ästhetisch perfekte Erscheinung in dem, was sie und wie sie es zeigen, surreal und wie eine Erzählung von Kafka brechen und damit die Frage nach möglichen Deutungen in alle denkbaren Richtungen öffnen. Die Leerstellen, die sie mit der Vernichtung ihrer für ihre Fotos gebauten Tableaus und ihrer Kulissen für ihr 18-teiliges Reenactment an ihren Film ›Agoraphobie‹ setzt, erhöhen die Nicht-Identifizierbarkeit und Deutungsfülle ihrer Arbeiten noch einmal. Aber sie gibt mit den Titeln ihrer Arbeiten immerhin Hinweise, wie man die Arbeiten verstehen könnte und lässt damit den Betrachter vor den Arbeiten im Ausstellungsraum anders als die harten Dekonstruktivisten, die auf jeden Titel verzichten, nicht ganz allein.

Helmut A. Müller

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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