Eröffnung Dennis Ulrich, Der Blick von oben.
Freie Platzwahl an der Schnittstelle von Malerei und Skulptur

Nordheimer Scheune, 18. Mai 2019

Liebe Freundinnen und Freunde der Ausstellungen in der Nordheimer Scheune,
sehr geehrte Damen und Herren,

Bildhauerei und Malerei sind in der Kunstgeschichte zwar nicht immer, aber doch zumeist eigenständige Wege gegangen und haben nicht selten um den Vorrang gestritten.

Für diesen Streit ist der in Italien bereits im 15. Jahrhundert für die Bildende Kunst belegte Begriff des Paragone (vergleiche dazu und zum Folgenden Christine Tauber, Paragone. In: Lexikon Kunstwissenschaft. Hundert Grundbegriffe, herausgegeben von Stefan Jordan und Jürgen Müller, Stuttgart 2012, S. 259 ff. und Hanna Baader, Paragone. In: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Idee. Methoden. Begriffe, herausgegeben von Ulrich Pfisterer, Stuttgart, Weimar 2003, S. 261 – 269) leitend geworden. Der als Paragone bezeichnete Vergleich kann sich auf den Wettstreit einzelner Künstler beziehen, aber auch auf den Vergleich unterschiedlicher Gattungen wie den zwischen Malerei und Dichtkunst und den zwischen Malerei und Skulptur. Dem Paragone zwischen Skulptur und Malerei kam im 16. Jahrhundert eine besondere Bedeutung zu. In der Diskussion spielten die Oppositionspaare
›Naturnachahmung gegen freie Erfindung‹, ›Naturnähe, Sein, Wahrheit gegen Schein und Augentäuschung‹, ›Redlichkeit gegen Virtuosität‹, ›Anstrengung gegen Leichtigkeit‹, ›Dreidimensionalität gegen Flächigkeit‹ und ›größere sittliche und staatstragende Nützlichkeit gegen größere Kunstfertigkeit im Illusionismus und in der Suggestion von Lebendigkeit‹ eine Rolle. In dem umfangreichen historischen Diskurs haben sich unter anderem Leon Batista Alberti, Albrecht Dürer und Leonardo da Vinci für den Vorrang der Malerei und Michelangelo für den der Skulptur ausgesprochen.

Wenn der 1989 in Pforzheim geborene Karlsruher Meisterschüler von Franz Ackermann Dennis Ulbrich in seinem bildnerischen Gestalten auf die Schnittstelle von Malerei und Skulptur setzt, knüpft er in einem späten, gleichsam postmodernen Echo an den Paragone an und überwindet ihn nicht nur theoretisch wie die philosophische Ästhetik, sondern in seinem Arbeitsansatz und in seinen Arbeiten theoretisch und praktisch. Er kreiert Bildobjekte, die den Wettstreit zwischen Malerei und Skulptur überflüssig machen, weil sie gleichermaßen Malerei und Skulptur sind. Wie macht er das?

In einem ersten Schritt sammelt Ulbrich Luftschlangen, flicht sie wie ein Weber Stück für Stück zusammen und lässt eine stark farbige geometrisch geordnete Landschaft entstehen, die an Piet Mondrian Boogie Woogie-Serie aus den 1940er Jahren erinnert (Serpends, 2016, Papier, Lack auf Keilrahmen, 120 x 80 cm). Seine Malerei „Ohne Titel“, 2016, Papier, Lack auf Rupfen oder grober Leinwand, könnte im ersten Moment an Decollagen erinnert, an Bilder, die aus Plakatabrissen entstehen. Aber Ulbrich geht genau den umgekehrten Weg: Er bringt unbemalte und bemalte Papiere und Luftschlangen auf die Leinwand auf und arrangiert daraus eine farblich zurückgenommenen abstrakte, immer wieder durch gegenläufige Bahnen gestörte, aber aufs Ganze gesehen in sich stimmige und harmonisch austarierte Landschaft. In seiner metallbasierten Serie aus demselben Jahr „Kissen“, 2016, Metall auf Holz, ca. 30 x 35 cm, „Gitter“, 2016, Metall auf Leinwand, 50 x 40 cm und „Ohne Titel“, 2016, Metall auf Holz, 20 x 30 cm treten gebrauchte Packbänder aus Metall an die Stelle des Papiers. Neben den Bildgrund Leinwand treten Bildgründe aus Holz. Damit steht diese Serie am Übergang zu seinen 2017 entstehenden holzbasierten dreidimensionalen Bildobjekten.

In diesen Bildobjekt ersetzen hölzerne Fundstücke aus Schreinereien die Papierbahnen und das Metall. Ulbrich sammelt ihm geeignet erscheinende massive Bretter-, Dielen-, Latten- und Leistenteile aus Buche, Tanne, Kiefer, Eiche und Nussbaum; weiter Spanplatten, Sperrhölzer, Schichthölzer und Parkettbodenreste, ergänzt sie um zugekaufte Hölzer, bearbeitet sie skulptural, bemalt und besprüht sie und legt sich so einen Fundus von für sich gültigen teils bemalten und teils unbemalten Skulpturen an. Aus diesem Fundus wählt er wie bei einem großen Puzzle, das man auf dem Boden auslegen muss, Einzelstücke aus, um sie zu einem größeren, in sich stimmigen harmonischen Ganzen zusammenzufügen. Aber Ulbrich ist im Unterschied zum Puzzle, bei den ausgestanzten Puzzleteile bis auf das letzte in das vorgegebene Gesamtbild passen müssen, nicht festgelegt, wenn er mit seiner Auswahl beginnt. Es gibt kein vorgegebenes Gesamtbild, auf das das angestrebte Zusammenspiel der Teile zulaufen muss. Zu den Teilen aus Holz kommen noch Pappen und opake, opale, farblose und eingefärbte Kunststofffolien hinzu. Damit potenzieren sich die Möglichkeiten bei den Eröffnungszügen ähnlich wie bei einem Schachspiel noch weiter.

Am Beginn der Arbeit kann also nicht gesagt werden, worauf sie hinausläuft und wie das fertige Bild aussehen wird. Fest liegt nur das Format, die ungefähre Größe und die Serie, der die Arbeit zugeordnet wird. Ausgemacht ist weiter, dass das Zusammenspiel von Farbe und Form, Fläche und Dreidimensionalität, Farbwirkung und Haptik eine tragende Rolle spielt, also das, was man spürt und wahrnimmt, wenn man die Einzelteile in die Hand nimmt. Und schließlich kommt es bei der Einfügung der Teile ins größere Ganze entscheidend auf die Intuition an. Mit der Zeit hat Ulbrich den Eindruck gewonnen, dass sich die Einzelteile ihren Platz im größeren Ganzen selbst aussuchen. Deshalb spricht er von „freier Platzwahl“.

Was letztlich an der Schnittstelle von Malerei und Skulptur entsteht, kann rezeptionsästhetisch als haptische Malerei oder als malerisches Relief beschrieben werden. Durch seine Anspielungen auf konkrete, abstrakte und angewandte Malerei, auf Pop-, Op-Art und auf Comics, durch seine Blickführung und durch sein reiches Spiel mit Licht und Schatten fängt diese haptische Malerei beziehungsweise das malerische Relief jeden Betrachter ein. Die reliefartige Aufspaltungen dieser Malereien lassen den Blick über die geschichteten und in sich verspannten Flächen, Bahnen und Stufen streifen. Die unterschiedlichsten Arten der Bemalung fordern das Auge heraus; die Zitate aus der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts evozieren vor dem inneren Auge eine malerische Ahnengalerie. Mit der Zeit stellt sich bei aller Vielschichtigkeit und trotz schreiender Farbvaleurs so etwas wie Ruhe ein. Es kommt einem vor, als sei man durch eine vielfältig gegliederte Landschaft aus Bergen, Tälern, Feldern, Wiesen, Weinbergen und Wäldern gewandert und wieder zu Hause angekommen. Man nimmt den bildnerischen Ausgleich von Volumen und Fläche, Oberflächen- und Raummodellierung, Körper-, Raum- und malerischer Relation, Eindimensionalität der Fläche und der Dreidimensionalität des Reliefs als befreiendes Spiel wahr, das einem ausgesprochen wohl tut. Man kommt im Hier und Jetzt an und weiß sich im Ganzen verortet.

In der jüngeren Kunstgeschichte kommt diesem Ansatz der von Piet Mondrian propagierte, aber nie plastisch umgesetzte „Neoplastizismus“ am nächsten und weiter der russische Konstruktivismus, aber mit einer anderen inhaltlichen Füllung.

Piet Mondrian hat am 4. Februar 1919 den Sinn der von ihm verfolgten Abstraktion als die Darstellung von Beziehung durch die „Gegenüberstellung von Farbe und Linie“ (Piet Mondrian, Dialog über die neue Gestaltung. In: Kunsttheorie im 20. Jahrhundert, herausgegeben von Charles Harrison und Paul Wood, Band 1, Ostfildern-Ruit 1998, S. 379 ) beschrieben. „Um eine Harmonie zwischen Farbe und Form zu schaffen, wurde der Gegenstand und damit die Form sorgfältig gewählt. War es z. B. mein Ziel, Weite oder Größe darzustellen, dann war damit auch der Gegenstand gewählt. Die Gestaltungsidee kam zu variiertem Ausdruck, je nachdem eine Dünenkette, ein Meer oder eine Kirche den Gegenstand bildete. Sie erinnern sich auch an meine Blumen. Auch sie waren aus vielerlei Blumen ausgewählt […]. Erst abstrahierte ich in der Darstellung das Zufällige, dann das freie Kurvige und schließlich das mathematisch Gekrümmte“ (Piet Mondrian a. a. O. S. 380 f.).

1920 spricht Mondrian davon, dass der Neoplastizismus, also die neue Gestaltung, das Tragische der Scheidung zwischen Individuellem und Universellen durch die Vernichtung der Form aufhebt. „Die Tragik des Lebens führt zu künstlerischem Schaffen: die Kunst, weil abstrakt und in Opposition zum Natürlich-Konkreten, kann dem gradweisen Verschwinden des Tragischen vorangehen. Je mehr das Tragische verschwindet, desto mehr gewinnt die Kunst an Reinheit […]. Der neue Geist unterdrückt das Beschreibende in der Kunst ebenso wie die Herrschaft des Tragischen. Da das Hindernis der Form vernichtet ist, bejaht die neue Kunst die reine Gestaltung, der neue Geist hat seinen plastischen Ausdruck gefunden. In ihrer Reife sind das Eine und das Andere neutralisiert und vereinigen sich im Ganzen. Verschmelzung des Inneren mit dem Äußeren ist zur augenscheinlichen Dualität geworden, die die absolute Einheit bildet. Das Individuelle und das Universelle stehen in mehr ausgeglichenen Gegensatz zueinander. Die Beschreibung wird überflüssig, da sie in Einheit verschmolzen sind: Das Eine erkennt sich im Anderen. Sie drücken sich plastisch aus, ohne Form zu verlangen: Ihre Beziehung (durch ein direkt gestaltendes Mittel) schafft die Gestaltung. – In der Malerei kam die neue Gestaltung zuerst zum vollständigen Ausdruck.  – Da ihr Prinzip solide aufgebaut ist, vervollkommnet sich diese Gestaltung unaufhörlich. –“ ( Piet Mondrian a. a. O. S. 385 f.).

Ulbrich wird mit seinen Bildobjekten zum Geburtshelfer der vor 100 Jahren von Mondrian prognostizierten Vervollkommnung der neuen Gestaltung: Für Mondrian kam die neue Gestaltung zuerst in der Malerei zum Ausdruck. Ulbrich hebt die Bindung der Malerei an die Fläche auf und erweitert sie von der Fläche in den Raum. Damit realisiert er die im Neoplastizismus schon angedachte dritte Dimension. Ulbrich ist Mondrian in der dritten Dimension.

Wenn Kasimir Malewitsch 1919 in seinem suprematistischen Manifest davon spricht, dass er das „Unterfutter des farbigen Himmels überwunden“, „es heruntergerissen und die Farben in den aus ihm gemachten Sack gesteckt“, „ihn zugeknotet“ und „Schwebt!“ gerufen hat, „Die weiße Tiefe, die freie Unendlichkeit liegt vor Euch“ (Kasimir Malewitsch, Suprematismus, Kunsttheorie im 20. Jahrhundert Band 1, a. a. O. S.329), malt Ulbrich diese Farben wieder an den Himmel und lässt sie über die Reliefs seiner Bildobjekte in die Augen der Betrachter schweben. Anders als Malewitsch will er mit seinen Gestaltungen nicht das kommunistische Bewusstsein fördern (KOM-Fut, »Programmatische Deklaration vom 26. 1. 1919, a. a. O. S. 329), sondern die Einsicht, dass es sich lohnt, den blauen Planeten als Heimat des Menschen zu erhalten. Es wäre fatal, so Ulbrich, wenn wir ihn noch länger ausbeuten und damit zerstören würden. Die alte philosophische Übung des von außen und von oben auf die Erde schauen kann zeigen, dass es an der Zeit ist, der Schönheit der natürlichen Ordnung wieder ein größeres Recht einzuräumen und die Überformung der Erde auf das dem Überleben Dienliche zu begrenzen.

Ulbrichs auf den harmonischen Ausgleich des Verschiedenen angelegten Bildobjekte können deshalb auch als ästhetische Reflexionen über die noch nicht gelöste Frage verstanden werden, wie der ›oikos‹, wie die ganze bewohnte Erde für die Generationen nach uns erhalten werden kann.

Helmut A. Müller

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