Liebe Freundinnen und Freunde der Nordheimer Scheune, sehr geehrte Damen und Herren,

die Malerin und Zeichnerin Lucia Dominguez Madeira wurde 1981 in Verl als Tochter spanischer Eltern geboren, hat nach Abschluss eines Bachelor of Arts in Bielefeld ab 2013 in Karlsruhe Malerei und Zeichnung studiert und dort 2019 als Meisterschülerin von Franz Ackermann abgeschlossen.

Die letzten sechs Monate hat sie an der Kunstakademie ‚La Esmeralda‘ in Mexiko-Stadt verbracht, die durch Malerinnen und Maler wie Frida Kahlo (1907 – 1954), Diego Rivera (1886 – 1957) und Carlos Orozco Romero (1890 – 1984) bekannt geworden ist. Rivera hat zu den sogenannten Muralisten gehört, die nach der mexikanischen Revolution Anfang des 20. Jahrhunderts durch große Wandgemälde auf öffentlichen Häusern wie dem Rathaus von Mexiko-Stadt und Mauern an die ruhmreiche mexikanische Tradition und die anstehenden sozialen Aufgaben erinnern und auf diese Weise zum Neuanfang des Landes beitragen sollten. Rivera war Kommunist, ist 1922 der kommunistischen Partei Mexikos beigetreten, wurde nach seiner Kritik an Stalin ausgeschlossen und ist erst 1954 wieder aufgenommen worden. 1929 hat er Frida Kahlo geheiratet, die seine weltanschauliche Gesinnung teilte.

Madeira hat in Mexiko natürlich auch das 1904 von Kahlos Vater erbaute ‚Blaue Haus’, das Geburtshaus von Frida besucht, ihr Studio besichtigt, ihre Krücken, ihren Rollstuhl, ihr Stehkorsett, ihre Staffelei, ihre Kleider und den Spiegel über dem Bett, mit dessen Hilfe sie sich und anderes im Liegen malen konnte. Niemand steigt zweimal in denselben Fluss. Aber Madeiras malerischer Zugang zu ihren Motiven könnte vielleicht doch entfernt auch an Kahlos Malweg zwischen Surrealismus und Neuer Sachlichkeit erinnern: Madeira geht wie Kahlo von realen Gegenständen aus; aber sie nähert sich ihnen anders als Kahlo in einem Zwischenbereich von Figuration und Abstraktion an. Sie interessiert sich für das Unklare, das Offene und das sonst wenig Gezeigte, aber wie Kahlo auch für die Verwandlung dieser Gegenstände durch die Malerei und das Geheimnis dieser Verwandlung.

So kann man die großformatige Collage „auditore“ im ersten Moment als farblich ausgewogene abstrakte Komposition von gekonnt in den Bildraum gesetzten moosgrünen, braungrauen und hell- und azurblauen Zufallsflächen wahrnehmen, auf denen einzelne gezielt gesetzte gelbe und rote Spritzer sitzen. Diese älteste Arbeit der Ausstellung aus dem Jahr 2015 ist nach einer Zeichnung auf einer längeren Zugfahrt entstanden, auf der Madeira ihren eingeschlafenen Kommilitonen mit dem Pullover über dem Kopf porträtiert hat. Das Material der Collage sind eingefärbte, zugeschnittene und farblich verstärkte Druckfolien; dazu kommen an einigen Stellen Zeichnungen und Aquarelle. Wenn man nach diesen Zusatzinformationen auf die Arbeit schaut, kann man sich den abstrahierten zugedeckten Kopf, die Hand, die den Pullover hält und die moosgrünen Polster im Bahnabteil gut vorstellen, die den Kopf stützen.

Ausgangspunkt ihrer 182 x 282 cm großen Malerei „juicy“ aus dem Jahr 2017 ist ein vom Wirt mit viel Fantasie und Liebe eingerichtetes Karlsruher Lokal, das für die dortigen Behörden so fremd gewesen sein muss, dass sie den Betreiber aufgefordert haben, sich bei der Einrichtung an die örtlichen Vorstellungen anzupassen. Die auf der Ölmalerei gezeigten Stühle könnten für die Personen stehen, die auf ihnen gesessen haben. Personen kommen in Madeiras Malwelt anders als bei Kahlo nicht vor, dafür aber Stellvertreter unterschiedlichster Art.

Die Zeichnungsfolge von 24 „creatures at a beach“ aus dem Jahr 2018 und die Zeichnungen „ultraviolett“, „im Schatten“ und „o.T. (Huelva)“ von 2019 zeigen Momente der Verwandlung von Alltagsmenschen in Strandgänger, von Unterkörper- und Fußpartien in himmelwärts fliegende Figurationen, von Schirmen in Landschaften und von Ventilatoren in technoid wirkende Rieseninsekten.

In der 2018 in der westlich von Gibraltar liegenden Stadt Huelva entstandene Serie von 30 x 40 cm großen Acryl-Malereien „se vende el pais“ könnten die konzentriert und farblich delikat gemalten Häuser und Verkaufsbuden für die Besitzer stehen, die neben Bikinis und Bananen das Land und die Häuser verkaufen wollen oder verkauft haben.

Die 2019 in Mexiko entstandene titelgebende Serie „VIVE SIN DOLOR“ von Acryl- und Collage-Malereien führt die Huleva-Serie weiter. Sie wirkt noch konzentrierter und durch ihre teilweise collagierten, Licht und Schatten werfenden Oberflächen malerisch noch ausgereifter. „VIVE SIN DOLOR“, „Lebe ohne Schmerz“ ist der Werbespruch einer orthopädischen Klinik in Mexiko-Stadt, der in der Tradition der Muralisten auf einer bräunlich nachgedunkelten weißen Mauer mit seinem blutroten Rahmen um Aufmerksamkeit heischt. Schwarzen, grauen und blauen Zeilen zeigen an, was alles in der Klinik diagnostiziert und therapiert werden kann, so Schulter- und Knieprobleme, Embolien, Frakturen, Arthritis und Lähmungen. Man fühlt sich an biblische Zeiten und die Heilung des Gelähmten erinnert, den seine Freunde über das abgedeckte Dach zu Jesus bringen und der auf das Wort Jesu hin aufsteht, sein Bett nimmt und nach Hause geht.

Die „esence to be found“ betitelte Serie der vier mittelformatigen, in Acryl auf Leinwand gemalten Arbeiten von 2019 zeigt Tücher und Kleider, die man beim Umziehen oder vor dem Zubettgehen auf einen Hocker oder Stuhl legt und die sich dort in Fleisch- oder Aufschnittberge, Köpfe, Kraken, Modellstädte oder „Ich weiß nicht was“ verwandeln und neue Identitäten annehmen. Auch Madeira weiß beim Malen nicht, was aus diesen Gegenständen geworden ist. Und sie weiß, dass sie es nicht herausfinden wird. Aber sie will festhalten, was sie vor ihrem inneren Auge gesehen hat und damit auf das von ihr alltäglich erlebbar Schöne aufmerksam machen, auf die Metaphysik im Alltag. Metaphysik im Alltag ist für sie das, was hinter dem Alltag stehen könnte, ein verborgener oder verloren gegangener und deshalb vermisster Sinn, oder, wie es der Soziologe Thomas Luckmann gesagt hat, eine kleine, eine mittlere oder eine große Transzendenz. Transzendenz im Wortsinn meint das, was jenseits eines Ortes, Raumes, Flusses, Berges oder einer Gegenwart zu finden und jetzt nicht zu erreichen ist. Im Griechischen wurde an den Fluss zur Unterwelt gedacht, an den Styx, den Tote überqueren mussten, um im Hades Eingang zu finden.

Die Vorstellung von Unter- und Überwelten, von Welten hinter der Welt, von gedoppelten Welten hat sich in der westlichen Moderne mehr oder weniger aufgelöst. Mehr oder weniger alles spielt sich in der einen durch den Ereignishorizont begrenzten Welt ab. Die Menschen sind in dieser einen Welt auf sich selbst zurückgeworfen und haben sich zu ihrem unhintergehbaren Zentrum gemacht. Aber sie haben dadurch den Horizont, auf den sie einmal zugegangen sind, verloren. Deshalb versuchen sie, sich für das verloren Gegangene zu entschädigen, indem sie sich innenweltliche Überschreitungen, kleine, mittlere und große Transzendenzen verschaffen. Luckmann spricht von kleinen Transzendenzen, wenn etwas die unmittelbare Erfahrung in zeitlicher oder räumlicher Hinsicht überschreitet: Ich erinnere mich heute an den Ort, an dem der Gegenstand liegt, den ich gestern vergeblich gesucht habe und weiß dann, dass es ihn noch gibt. Mittlere Transzendenzen unterscheiden sich von kleinen darin, dass sie nur mittelbar erfahren werden können. Ich kann keinem anderen in den Kopf schauen und kann nicht wissen, was er denkt, außer er teilt es mir mit. Die Grenzen zum Anderen und zur Welt bleiben bestehen, außer ich überschreite sie in Ekstasen, der Liebe oder im Flow. Große Transzendenzen sind in der Alltagswelt nicht erfahrbar. Im Alltag finden sich lediglich Statthalter der großen Transzendenz, so etwa in Symbolen, Gleichnissen, Erzählungen oder Bildern von der großen Transzendenz. Die Heilung des Gelähmten wäre so eine Erzählung oder das Wandbild „VIVE SIN DOLOR“. Madeiras Malereien zeigen vor allem kleine und mittlere Transzendenzen; aber mit „VIVE SIN DOLOR“ erinnert sie auch an die großen.

Helmut A. Müller

 

 

 

 

 

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