Neuausgabe des 2012 erschienenen Taschenbuchs ›Zuversicht. Wege aus der Resignation (Die erste Auflage ist 2001 unter dem Titel ›Vertrauen finden. Die kreative Kraft der Hoffnung‹ erschienen)

Patmos Verlag 2020, ISBN 978-3-8436-1280-7, 136 Seiten, Hardcover gebunden, Format 19,4 x 12,5 cm, € 15,00 (D) / € 15,50 (A)

Verena Kast geht in ihrem 2001 erstmals aufgelegten Erfolgstitel davon aus, dass wir nicht, wie Jürgen Habermas im selben Jahr diagnostiziert, in einer postsäkularen, sondern in einer posttraditionalen Gesellschaft leben und Hoffnung deshalb nicht wie in früheren Zeiten einfach auf Gott oder einen Lohn im Jenseits bezogen werden kann. Jürgen Habermas hat 2001 bei seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in der Paulskirche in Frankfurt von der postsäkularen Gesellschaft gesprochen (vergleiche dazu auch Markus Knapp, Glauben und Wissen bei Jürgen Habermas unter https://www.herder.de/stz/wiedergelesen/glauben-und-wissen-bei-juergen-habermas-religion-in-einer-postsaekularen-gesellschaft/). Verena Kast bleibt dagegen bei posttradititional und verbindet damit die Vorstellung vom zunehmenden Bedeutungsverlust der Religion (vergleiche dazu Verena Kast S. 35). Sie meint, sich dadurch die Auseinandersetzung mit den komplexen Traditionen der Religionen ersparen zu können (vergleiche zur Hoffnung in den Religionen etwa Jürgen Moltmann, Theologie der Hoffnung, 1964, https://www.oikoumene.org/de/news/50-years-after-theology-of-hope-juergen-moltmanns-vision-continues-to-inspire und die Dissertation an der Universität Halle ›Was ist Hoffnung? Die Entwicklung des modernen Hoffnungsbegriffs‹ an ausgewählten Beispielen ⟨Forschungshintergrund⟩‹: https://sundoc.bibliothek.uni-halle.de/diss-online/04/05H014/t3.pdf). Gleichwohl setzt sie emphatisch auf die transformierende Kraft der tiefen und bildlosen Hoffnung als einer Grund-, Hintergrunds- und gehobenen Begleit-Emotion des Lebens (vergleiche dazu auch U. Mees, 2006, Zum Forschungsstand der Emotionspsychologie – eine Skizze. In R. Schützeichel (Hg.), Emotionen und Sozialtheorie. Disziplinäre Ansätze (S. 104–124). Frankfurt: Campus: https://uol.de/f/6/dept/psycho/download/mub/Zum_Forschungsstand_der_Emotionspsychologie.pdf).

Kast beruft sich unter anderem auf Ernst Bloch, der Hoffnung als einen mit der Natur gegebenen Affekt beschrieben hat, der lehr- und lernbar und der Furcht entgegengesetzt ist. „Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen. Seine Arbeit entsagt nicht, sie ist ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern. Hoffen, über dem Fürchten gelegen, ist weder passiv wie dieses, noch gar in ein Nichts gesperrt. Der Affekt des Hoffens geht aus sich heraus, macht Menschen weit, statt sie zu verengen … Die Arbeit des Affekts verlangt Menschen, die sich ins Werdende tätig hineinwerfen, zu dem sie selber gehören. Lernen, ja sogar lehren soll man sie, um der Angst zu begegnen und das Leben menschenwürdiger leben zu können. Das Leben aller Menschen ist von Tagträumen durchzogen, darin ist ein Teil lediglich schale und entnervende Flucht …, aber ein anderer Teil reizt auf … Dieser Teil hat das Hoffen im Kern und er ist lehrbar“ (Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 1959 ⟨4. Auflage 1993⟩, S. 1). 

Bei Bloch sind die Affekte in der Natur als dem unvordenklichem Urgrund des Lebens situiert, bei Kast verdankt sie die Hoffnung einem Schicksal, „das es erlaubt, das, was im Leben angelegt ist, auch gut zu leben, zu verwirklichen, was uns wichtig ist und damit ein sinnvolles Leben zu führen“ (Verena Kast S. 35). Sinnvoll wird das Leben für die Psychologin, Psychotherapeutin, Lehranalytikerin und langjährige Präsidentin des C.G.Jung-Instituts, Zürich, wenn wir Menschen im Laufe unseres Lebens „immer mehr der oder die werden …, die wir eigentlich sind, immer echter, immer mehr wir selbst, immer stimmiger mit uns selbst“ (Verena Kast S. 107), uns also individuieren. „Der Individuationsprozess, so wie Jung ihn beschreibt, ist einerseits ein Integrationsprozess: Wir integrieren im Laufe eines Lebens die unterschiedlichen  Seiten an uns, die zu uns gehören. Die Anregung dazu kann sowohl aus unserem Unbewussten kommen als auch aus der Auseinandersetzung mit der Mitwelt. Der Individuationsprozess ist andererseits auch ein Prozess der Abgrenzung, des Gewinnens von immer mehr Autonomie, mehr Freiheit … Im Individuationsprozess fragt man konsequent nach »mit selbst« in der Beziehung zu meinem Unbewussten, meinen Mitmenschen, der Mit-welt. Und es gibt immer wieder Antworten, die mich als einmaligen Menschen mit einmaligen Anforderungen des Lebens zeigen, immer vorläufig, auf Korrigierbarkeit hin angelegt … Es geht um Autonomie innerhalb von Beziehungen. Individuation ist ein Prozess und letztlich auch ein Ziel. Als Ziel ist Ganzwerden eine Utopie, die wir nie erreichen, wir sind bestenfalls auf dem Weg, und auf diesem Weg bleiben wir manchmal stecken. Der Prozess indessen erfüllt die Dauer des Lebens mit Sinn … Im Verlaufe dieses Prozesses werden einige besonders wichtige Archetypen … und die vielfältigen Bilder des Schattens belebt“ (Verena Kast S. 107 ff.). Das Selbst, das als apriorisches Gestaltungsprinzip des Lebens wirkt, zeigt sich in Träumen und Bildern und auch in Bildern vom inneren und vom göttlichen Kind. Der Mensch ist am Ziel, wenn sein inneres Kind auf die Welt kommt.

Auch nach Bloch lebt der Mensch noch in seiner Vorgeschichte. Aber er geht als arbeitender, schaffender, die Gegebenheiten umbildender und überholender Mensch auf eine Welt ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie zu. So „entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ (Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, S. 1628). Heimat entsteht, wenn der Mensch seine Entfremdung überwunden hat und er mit sich selbst identisch geworden ist. Der Himmel auf Erden ist erreicht, wenn der Mensch sich seinem existentiellen und kosmischen Lebensgrund möglichst weit angenähert hat. 

In der Einleitung zur jetzt vorliegenden Neuauflage ihres Klassikers spielt Kast zwar auf den mit der drohenden Umweltkatastrophe und der Covid–19–Pandemie kaum mehr zu verdrängenden Tod an, aber sie verlagert ihre Argumentation noch im selben Atemzug auf die Vorstellung, dass der immer wieder mögliche Neuanfang das Geheimnis des Lebens sein könnte. Eine Antwort, was der Tod für die Menschen bedeuten könnte, gibt sie nicht. „Die Zukunft ist offen … Leben ist aber immer auch bedroht: Natürlich können wir auch ernste Gefahren verleugnen, überspielen, wie wir es vielleicht mit der Umweltkatastrophe tun, aber dann müssen wir uns doch der Realität stellen, wahrnehmen, dass das Leben bedroht ist, dass wir nicht wissen, wie die Zukunft aussehen mag. An sich ist das natürlich immer so, wir sind vom Tod umfangen und wissen nicht, wann er uns ereilt …, aber wir blenden den Tod so gut es geht aus und das geht dann nicht mehr, wenn eine ernsthafte Bedrohung auszumachen ist, wie etwa bei einer Pandemie. Und wie soll es dann weitergehen? Wie immer: Schritt für Schritt, man erlaubt sich die Zuversicht, dass es wieder »besser« wird. Menschen stellen sich immer wieder neuen Lebenssituationen, brechen immer wieder auf … – auch nach der Katastrophe ist ein Neuanfang möglich. Dieses Weitergehen, das Erproben kreativer Möglichkeiten, ist getragen von Hoffnung und Vertrauen, dass es doch irgendwie »etwas Besseres« geben müsste, dass etwas Befriedigenderes zu erreichen ist. Ist diese Zuversicht eine Illusion oder das Geheimnis eines gelingenden Lebens?

Zuversicht, Hoffnungen, Erwartungen, Sehnsüchte, Vertrauen verbinden uns mit der Zukunft … Wir sind uns innerlich immer auch schon voraus und entwerfen unser Leben auf die Zukunft hin. Diese Phantasien können eher Phantasien der Angst … aber auch schöpferische Phantasien sein: Phantasien, die mehr von Hoffnung geprägt sind und uns als Menschen zeigen, die mit großer Zuversicht die Zukunft angehen und sie auch gestalten wollen“ (Verena Kast S. 8 f.). 

Damit wird das Leben zu einem Raum, in dem man sich verwirklichen und Sinn und Bedeutung erleben kann. „Eigentlich geht es um die lebendige Liebe zur Zukunft, die wir aber nur aufbringen können, wenn wir uns auch getragen fühlen“ (Verena Kast S. 11). Was sein wird, wenn uns diese Möglichkeit an den Rändern des Lebens nicht mehr gegeben ist und was sein wird, wenn wir nicht mehr sind, geht die Psychologin und Psychoanalytikerin schlicht und einfach nichts mehr an. Deshalb schweigt sie sich an dieser Stelle aus. Ihr Schweigen erinnert an Epikur. „Gewöhne Dich an den Gedanken, dass der Tod uns nichts angeht“, schreibt Epikur in seinem Brief an Menoikeus. Denn „solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr“ (Epikur an Menoikeus).

ham, 27. Oktober 2020

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