Hgg. von Alessandra Nappo, Staatsgalerie Stuttgart. Mit Beiträgen von Christiane Lange, Carolin Scharpff-Striebich und Allesandra Nappo

Staatsgalerie Stuttgart / Hirmer Verlag, München, 2021, ISBN: 978-3-7774-3807-8, 184 Seiten, 80 Farbabbildungen, Klappenbroschur, Format 27 x 21 cm, € 34,90 (D) / € 35,90 (A) / SFR 42,60 (CH)

Gewöhnlich werden zu Sammlungspräsentationen keine Kataloge veröffentlicht. Das trifft auch auf die Staatsgalerie Stuttgart zu. Die Ausnahme ist die dort jüngst unter dem Titel ›Sense Condititions / Angespannte Zustände‹ eingerichtete Ausstellung mit Werken aus dem sogenannten »offenen Depot« der von Ute Scharpff-Striebich verwalteten und weiter ausgebauten Sammlung ihrer Eltern Ute und Rudolph Scharpff und Werken der Staatsgalerie, einem Hybrid zwischen Wechselausstellung und Sammlungspräsentation. Für Christiane Lange verdeutlicht Alessandra Napppos Auswahl aus den beiden Sammlungen, welchen Beitrag Kunst zu aktuellen Debatten und Fragen leisten kann: „Was ist Identität? Welche Form von Gewalt erleben wir? Wie fragil ist die Umwelt? Ist nicht jeder Mensch auch Teil der Natur? Sind wir nicht alle Opfer von Klischees? Ist Sicherheit wichtiger als Freiheit? Solche Fragen stellen nicht nur die Arbeiten junger Künstler wie Sterling Ruby, Teresa Margolles oder Kapwani Kiwanga, sondern auch Werke aus den 1960er Jahren …, also von älteren Zeitgenossen wie Giovanni Anselmo, Ed Kienholz, Katharina Sieverding, Phyllida Barlow“ (Christiane Lange S. 7). 

Die von Alessandra Nappo kuratierte Ausstellung verzichtet wohl wegen dieser Zuspitzung auf Gegenwartsfragen auf eines der Highlights der Staatsgalerie, auf Duane Hansons ›Cleaning Lady (Putzfrau)‹ (vergleiche dazu https://www.staatsgalerie.de/g/sammlung/sammlung-digital/einzelansicht/sgs/werk/einzelansicht/BBFC3B384BAF57A78E5F0DA0DF7E1901.html). ›Die Putzfrau‹ stand einstens im Treppenhaus vor der Wohnungstür der Familie Scharpff und hat die Zusammenarbeit zwischen der Staatsgalerie und der Stuttgarter Familie begründet. Hansons ›Putzfrau‹ sorgte dort regelmäßig – und später auch in der Staatsgalerie – für erheblichen Wirbel. Sie sieht so lebensnah und echt aus, dass die meisten Gäste, denen sie unpässlich erschien, ihr prompt zu Hilfe eilen wollten. „In ihrer liebenswürdigen Sonderbarkeit war sie es auch, die – zunächst als Leihgabe und schließlich als Teil der Museumssammlung – den Grundstock für die langjährige Kooperation zwischen der Staatsgalerie und der elterlichen und später meiner Sammlung legte. Das daraus erwachsene Vertrauen, der gegenseitige Respekt und der beständige Dialog auf Augenhöhe gab nun auch den Anstoß für die Ausstellung ›Angespannte Zustände‹“ (Carolin Scharpff-Striebich S. 10). 

Statt der ›Cleaning Lady (Putzfrau)‹ gingen Arbeiten wie Julian Charrières ›First Light‹ aus dem »offenen Depot« in die Präsentation ein. ›First Light‹ erinnert als mit nuklearem Material bearbeitete Fotografie an die Atombombenversuche auf dem Bikini-Atoll (vergleiche dazu https://kunst.mobiliar.ch/julian-charriere/bravo-first-light). Weiter Ximena Garrido-Leccas ›Aleaciones con memoria de forma: runa‹ (vergleiche dazu https://www.artbasel.com/catalog/artwork/78181/Ximena-Garrido-Lecca-Aleaciones-con-memoria-de-forma-runa), die in ihrer kunsthandwerklichen Verarbeitung von industriell hergestelltem Kupfer an die Kupferminenstadt Cerro de Pasco im Hochland von Peru denken lässt, die elfenbeinfarbene Klangskulptur ›Lucy‹ der Französin Marguerite Humeau (vergleiche dazu https://www.swr.de/swr2/kunst-und-ausstellung/bildergalerie-angespannte-zustaende-staatsgalerie-stuttgart-100.html, Bild 2/10) und die die erotische Fantasie stimulierende und zugleich Magenbeschwerden verursachende Skulptur der schwedischen Künstlerin Anna Uddenberg ›Fokus (Gepolsterter Zweck)‹ (vergleiche dazu https://www.swr.de/swr2/kunst-und-ausstellung/bildergalerie-angespannte-zustaende-staatsgalerie-stuttgart-100.html, Bild 3 von 10). 

Aus der Staatsgalerie haben es unter anderem Anna und Bernhard Blumes ›Hänsel und Gretel‹ in das Herz der Kuratorin und damit in die Sammlungspräsentation Gegenwart geschafft (vergleiche dazu https://www.staatsgalerie.de/g/sammlung/sammlung-digital/einzelansicht/sgs.angesp_2021/werk/einzelansicht/D38C2B8172484389B9E8897F2BC0E76D.html), weiter Asta Grötings ›Ohne Titel (Menschliches Verdauungssystem)‹ (vergleiche dazu https://www.staatsgalerie.de/g/sammlung/sammlung-digital/einzelansicht/sgs.angesp_2021/werk/einzelansicht/A339067E4E81AC1C424829A920CE3991.html), Hermann Nitschs ›Schüttbild (Triptychon)‹, 1963 (vergleiche dazu https://www.staatsgalerie.de/g/sammlung/sammlung-digital/einzelansicht/sgs.angesp_2021/werk/einzelansicht/CC627CD44F0A4BB3B5D59821C5813CDA.html) und schließlich auch Pia Stadtbäumers ›Ohne Titel (Roter Arm)‹ (vergleiche dazu https://www.staatsgalerie.de/g/sammlung/sammlung-digital/einzelansicht/sgs/werk/einzelansicht/9F335756445160334B58A3B68FA3614F.html).

Auch und gerade dann, wenn die Fantasien, Anmutungen und Antworten der Künstler andere als die der Betrachter sind, lohnt sich eine weitergehende Beschäftigung mit den Werken und ihren Hintergründen.

ham, 18. August 2021

 

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