Patmos Verlag, Ostfildern, 2021, ISBN 978-3-8436-1307-1, vollständig überarbeitete Neuausgabe der 8. Auflage des 2007 im Patmos Verlag, Düsseldorf, erschienen gleichnamigen Titels, 251 Seiten, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag, Format 22,5 x 15 cm, € 28,00

Nach dem Sozialwissenschaftler, Supervisor und viel gefragten Ausbilder von Lehrern, Pflegekräften, Sozialarbeitern, Seelsorgern, Mediatoren, Psychotherapeuten, Beratern, Mitarbeitern im Strafvollzug, Richtern, Medizinern und Führungskräfte in Deutschland und Lateinamerika zum Thema Menschenwürde und Scham Stephan Marks gehört Scham zum Menschsein; sie ist geradezu ein Wesensmerkmal des Menschen und das Thema unserer Zeit. Schon Adam und Eva schämten sich, als sie erkannten, dass sie nackt waren. Als Kains Opfer keine Anerkennung fand, errötete er und ermordet seinen Bruder. „Obwohl Scham ein universeller menschlicher Affekt ist, ist sie wenig in unserem Bewusstsein; sie ist … so etwas wie das ›Aschenputtel unter den Gefühlen‹. Denn über Scham redet man nicht; man zeigt sie auch nicht, sondern verbirgt sie, hält sie geheim. Scham ist in der Gegenwart selbst zu etwas geworden, wofür Menschen sich schämen“ (Stephan Marks S. 14). Unter den fachwissenschaftlichen Veröffentlichungen ragt Léon Wurmsers 1990 in erster Auflage erschienen Klassiker ›Die Maske der Scham‹ heraus. Deshalb ist es folgerichtig, dass er zu den von Marks am häufigsten zitierten Publikationen gehört und schon in der Einleitung erwähnt wird:

„Scham wird häufig mit anderen Gefühlen oder mit Schuld verwechselt. Sie verbirgt sich oft hinter anderen Affekten wie Angst, Wut oder Zorn … Die Maske der Scham lautet folgerichtig der Titel des Standardwerks von Léon Wurmser“ (Stephan Marks a. a. O.). Wurmser hat 1990 in der ersten Auflage seines Werks die Erscheinungsformen, Struktur und Genese der Scham und Schamabwehr beschrieben, sie von der Schuld abgegrenzt, ihre Bedeutung für das Alltagsleben erläutert und die heilenden Möglichkeiten des therapeutischen Umgangs mit ihr vorgestellt (vergleiche dazu https://link.springer.com/content/pdf/bfm%3A978-3-642-80457-1%2F1.pdf) und https://www.degruyter.com/document/doi/10.14361/9783839404256-001/html).

In der Neuauflage seines Bestsellers erinnert Marks an die wachsende Vergiftung unserer zwischenmenschlichen Beziehungen, die um sich greifenden Unverschämtheiten im Straßenverkehr und in Internetforen und die unfassbaren Schamlosigkeiten mancher Banker, Manager und Politiker und fragt, ob noch Hoffnung besteht. Seine Antwort: „Unverschämte Zeiten braucht Schamarbeit. Not-wendig ist es, uns auf die Scham zu besinnen, denn sie ist das soziale Gefühl, zuständig für gelingende Zwischenmenschlichkeit: Sie ist nach Léon Wurmser die Wächterin der Menschenwürde“ (Stephan Marks S. 10). Wurmser hat sein Nachdenken mit dem Nietzsche-Zitat ›Alles, was tief ist, liebt die Maske; die allertiefsten Dinge haben sogar einen Haß auf Bild und Gleichnis. Sollte nicht erst der Gegensatz die rechte Verkleidung sein, in der die Scham eines Gottes einherginge?‹ (Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse) und zwei Talmud-Zitaten ›Demütigung ist schlimmer als körperlicher Schmerz.‹ (Talmud, Sota 8 b) und ›Jemanden öffentlich beschämen ist wie BIut vergießen.‹ (Talmud, Baba Metzia 58 b) eingeleitet. Marks erinnert dagegen an das Gedicht des spanischen Dichters Juan Ramón Jiménez (1881 – 1958) „Ich spür’, dass mein Schiff, / dort in der Tiefe, auf etwas Großes / gestoßen ist. Und nichts / geschieht! Nichts … Ruhe … Wogen … / – Nichts geschieht; oder ist alles geschehen, / und wir sind schon mit dem Neuen vertraut? –“ (Juan Ramón Jiménez nach Stephan Marks S. 8).

Marks unterscheidet in seinem ersten Kapitel vier Grundformen der Scham:

Erstens „die Gefühle, die zurückbleiben können, wenn wir missachtet, ignoriert oder wie Luft behandelt

werden. Wenn unser Grundbedürfnis nachAnerkennung verletzt wurde.

Dann zweitens die Gefühle, wenn unser Grundbedürfnis nach Schutz verletzt wurde, passiv, durch andere oder auch aktiv durch uns selbst. Diese Intimitäts-Scham ist die Scham der Opfer von Grenzverletzungen.

Drittens die Gefühle, die dadurch ausgelöst werden, dass man den Erwartungen, Normen und Werte der Familie, Sippe, Gruppe oder Gesellschaft nicht entspricht und dafür ausgegrenzt wird: wenn unser Bedürfnis nach Zugehörigkeit verletzt wird.

Diese Schamgefühle sind, viertens, verschieden von den Gefühlen eines Täters, der sich für sein Handeln schämt; dies wird als moralische oder Gewissens-Scham bezeichnet. Sie bleibt zurück, wenn wir die eigenen Werte, das Grundbedürfnis nach Integrität, verletzt haben“ (Stephan Marks S. 16).

In einem Manuskript zu seinem Seminar ›Menschenwürde und Scham‹ fasst Marks die im zweiten Kapitel dargestellte Entwicklung von Scham so zusammen: „Die Entwicklung der Scham beginnt sehr früh. Ihre Vorläufer entwickeln sich in der frühen Eltern-Kind-Kommunikation – ihre Entwicklung im eigentlichen Sinne beginnt ab ca. Mitte des 2. Lebensjahres. Von besonderer Bedeutung … ist die Qualität des Augen-Kontakts. Scham wird oft transgenerational weitergereicht, z. B. durch Erziehung, Schule, Ausbildung u. v. a. Scham gehört zum Menschsein. Zugleich ist sie individuell verschieden ausgeprägt und verschieden je nach Geschlechts- und Kultur-Zugehörigkeit. Scham ist ein sehr peinigendes Gefühl, das eng mit Körperreaktionen verbunden ist (z. B. Erröten). Wer sich schämt, der „igelt“ sich ein, möchte im Erdboden versinken. So zeigt schon die Körperhaltung: Scham macht narzisstisch. Sie trennt die Menschen (jedenfalls so lange sie unbewusst ist).

Scham kann von verschiedener Dauer (flüchtig bis dauerhaft) und Intensität sein (leicht bis abgrundtief).

Scham kann in jeder zwischenmenschlichen Begegnung akut werden … Scham ist nicht mit Beschämung zu verwechseln: Scham ist eine natürliche Reaktion einer sich-schämenden-Person (z. B. aufgrund eines begangenen Fehlers). Beschämung bedeutet, einen anderen Mensch zu verhöhnen, verachten, auszugrenzen etc.

Zu unterscheiden ist zwischen einem gesunden Maß an Scham („gesunde Scham“) und einem traumatischen Zuviel an Scham („pathologische Scham“). Dabei wird das Ich von Schamgefühlen überflutet. Einen Fehler gemacht zu haben wird dann erlebt als „ein Fehler sein“. Dies ist ein Zustand existenzieller Angst“ (Stephan Marks in https://www.krankenhausseelsorge-wuerttemberg.de/fileadmin/mediapool/einrichtungen/E_krankenhausseelsorge/Stephan_Marks_Handout_Scham_und_Wuerde.pdf).

Wer von Scham überflutet wird, wehrt sie u. a. durch Kontaktabbruch, rätselhaftes Verhalten, Schmollen, Maskierungen, sich Einigeln, Lügen, Projektionen, Unverschämtheiten, Größenphantasien, Sucht, Ehren- und Selbstmorde ab. Diese und weitere Abwehrmechanismen werden im dritten Kapitel beschrieben. Das vierte Kapitel zeichnet dem Teufelskreis von Gewalt und Scham im Kontext von Gesellschaft und Geschichte unter anderem in Deutschland, den USA, Israel und Palästina nach.

Marks schlägt vor, die Wahl von Donald Trump im Jahr 2016 zum US-Präsidenten unter dem Gesichtspunkt der Spaltung der US-Bevölkerung zu betrachten. Demnach fühlt sich die Bevölkerung der USA in den Vorstädten und auf dem Land von einer macht- und geldgierigen neoliberalen elitären Allianz aus Politik, Wirtschaft und Medien abgehängt, nicht erst genommen, lächerlich gemacht und als Hinterwäldler verunglimpft. Sie klammert sich an ein überkommenen konservatives Amerikabild. Donald Trump trat so auf, als sei er einer von ihnen. Er verkörperte in vielerlei Hinsicht das Gegenteil des herrschenden Ideals. Er verstand es, seinen Wählern das Gefühl zu geben, sie so zu respektieren, wie sie sind. Eben darauf basierte seine Macht. Darüber hinaus versprach er die Wiederherstellung der durch die Demütigung von Einwanderern, Ausgrenzung der Schwarzen, Polizeigewalt, den verlorenen Vietnamkrieg, Yankee-go home-Slogans, den 11. September 2001 und anderes verletzte Vorstellung von Größe und Ehre der USA wieder herzustellen. Wenn Trump sagte, er mache Amerika wieder groß, dann fühlten sie sich angesprochen. Denn er sagte auch, dass sie dieses Amerika seien und nicht der Sumpf in den Großstädten.

Die israelitische Gesellschaft besteht unter dem Gesichtspunkt der Scham nach Marks „zu großen Teilen aus Menschen, die vor antisemitischer Unterdrückung, Verfolgung, Vertreibung und Massenmorden geflohen waren. Bedingt durch seinen jahrzehntelangen Kampf ums Überleben ist Israel … stark durch ›Heldentum‹ geprägt. Dies hat zur Folge, dass Holocaust-Überlebende oft mit einer anklagenden Haltung begegnet wurde: ›Ihr habt nicht gekämpft und deswegen sollt ihr euch schämen.‹ So hatten die Überlebenden nicht nur die traumatische Scham durch die erfahrene Erniedrigung in Nazi-Deutschland zu tragen, sondern wurden zusätzlich bei ihrer Ankunft in Israel beschämt. Etwa indem früher Eingewanderte hinter ihrem Rücken tuschelten: ›Wie hat sie eigentlich überlebt?‹ ›Was hat er eigentlich mit den Deutschen gemacht, dass er überleben konnte?‹ Den Überlebenden wurde unterstellt, dass sie irgend etwas falsch gemacht haben mussten, um überlebt zu haben.

Traumatische Erfahrungen – und mit ihr die Scham – wird transgenerational an die folgende Generation weitergegeben … Dieses traumatische Erbe der israelischen Gesellschaft, das seine Wurzeln in NS-Deutschland hat, wird mit jeder Bombe, die in Israel explodiert, reaktiviert und intensiviert. Könnte dieses Erbe und die erfahrenen Überlebenskämpfe zu einem Verständnis der israelitischen Gesellschaft und ihrer Reaktionen gegenüber den Palästinensern beitragen?“ (Stephan Marks S. 159). Etwa zu den Hintergründen der Massivität die militärischen Reaktionen auf palästinensische Angriffe? Der israelische Psychologe, Therapeut, Holocaust- und Friedensforscher Dan Bar-On (1938 – 2008) sah „seine Gesellschaft gefangen in einem Teufelskreis aus dem ›Anspruch auf absolute Rechtmäßigkeit und totale Macht‹, in dem ›kein Raum mehr für Mitgefühl‹“ bleibt. „Aus dem Gefühl heraus, Opfer und schwach zu sein, trete Israel sehr machtvoll auf, ohne die Auswirkungen auf diejenigen zu beachten, die unter diesem Auftreten zu leiden haben. So seien militante Organisationen wie die Hisbollah und die Hamas ›zum Teil als Reaktion auf unsere exzessive Gewaltanwendung entstanden. Nachdem diese Organisationen zu einer Größe angewachsen waren, die uns bedroht, beschweren wir uns und sehen uns wieder als Opfer und sie als Terroristen, mit denen man nicht sprechen kann. Wie bei einem Schachspiel mit sich selbst sei das palästinensische Volk vergessen worden. Raketenangriffe auf Israel seien schmerzliche Erinnerungen an dieses andere Volk, das leidet und Wege benötigt, um sich zu Wort zu melden“ (Stephan Marks S, 159 f.).

Der letzte Absatz des Kapitels befasst sich mit der Scham der Armen und der Schamlosigkeit der Reichen. Obwohl die Weltwirtschaft derzeit 12 Milliarden Menschen ernähren könnte, sterben 62 Millionen im Jahr hauptsächlich an Hunger. 10 Millionen Kinder unter fünf Jahren sind unter- und 854 Millionen Menschen chronisch mangelernährt. 1,8 Milliarden Menschen müssen von weniger als einem Dollar am Tag leben. Demgegenüber verdienen 1 Prozent der reichsten Bewohner so viel wie 57 Prozent der Armen zusammen. „Die Reichen, das sind wir, die Bewohner der … ›Ersten Welt‹, jedenfalls soweit wir nicht dem sogenannten ›Prekariat‹ … angehören. Aus globaler Perspektive betrachtet ist es schon erstaunlich, worüber wir uns im Alltag oft schämen: Nicht für unseren … Wohlstand und dessen ökologische Konsequenzen, sondern etwa für ein ungewaschenes Auto. Wir sind alle gut informiert … über die strukturelle Ungerechtigkeit der Weltwirtschaft. Vielleicht empfinden wir unbewusst, tief in unserem Inneren, Gewissens-Scham für unsere Komplizenschaft in dieser ›kannibalistischen Weltordnung‹, wie [Jean] Ziegler sie nennt … ›Wenn ein Mensch verletzt ist, wenn er Hunger hat, wenn er – an Körper und Geist – die Demütigung des Elends erleidet, empfindet er Schmerz. 

Als Zeuge des Leids, das einem anderen Menschen zugefügt wird, empfinde ich in meinem Bewusstsein seinen Schmerz, und dieser Schmerz erweckt mein Mitgefühl, löst einen Impuls der Fürsorglichkeit aus und überhäuft mich mit Schande‹ [Jean Ziegler]. Diese Schamgefühle sind vielleicht überdeckt von Gefühlen der Ohnmacht … Was kann der oder die Einzelne schon tun? Verführerisch nahe liegt es, diese Schamgefühle abzuwehren: etwa durch zynische Verachtung … und Schamlosigkeit durch um so rücksichtsloseres Streben nach Erfolg, Macht und Besitz. So wirken die Schamlosigkeit der Reichen und die Scham der Armen zusammen und erhalten die ungerechte Weltordnung aufrecht. Sie passen zusammen wie …›die Faust aufs Auge‹“ Hoffnung auf persönliche und strukturelle Weiterentwicklungen gibt es überall dort, „wo Menschen ihre Schamgefühle nicht länger abwehren … und sich der schmerzhaften Begegnung mit ihr stellen: [der] Schamarbeit“ (Stephan Marks S. 171 ff.).

Der Schamarbeit ist das letzte Kapitel gewidmet. Scham erscheint als die Türe, hinter der sich neue Entwicklungsmöglichkeiten auftun. Weil Scham „so schmerzhaft ist, ist sie einer der stärksten Impulsgeber für Entwicklung. Sie ist wie ein Stachel im Fleisch … der uns daran erinnert: ›Das tust du nie wieder!‹ Schamgefühle sind wie die Wächter, die Adam und Eva die Rückkehr ins Paradies verwehren. Die beiden schämen sich – mit der Konsequenz, dass sie sich von nun an bekleiden … Scham und Kreativität hängen wesentlich zusammen …“ (Stephan Marks S. 200 f.). Scham ist schon bisher zu einer „Quelle von Glück, Erkenntnis und Kultur“ (Till Briegleb nach Stephan Marks S. 201) und einem Motor der Zivilisation geworden. Warum sollten sie es nicht auch in Zukunft sein?

Die Publikation lässt keinen kalt, geht an Herz und Nieren, überfordert zuweilen mit der Fülle seiner Aspekte und sollte gerade deshalb in die Hand genommen und gründlich studiert werden.

ham, 15. Juni 2021

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