Edition Mercator C.H. Beck, C.H.Beck Verlag, München 2021, ISBN 9783406775703, 189 Seiten, kartoniert, Format 20,5 x 12,5 cm, € 14,95 (D)

Nach Angela Merkels „Wir schaffen das!“ vom 31. August 2015 und der enormen Bereitschaft der deutschen Bevölkerung, Asylbewerber bei ihrer Integration zu unterstützen, schienen die Grenzen in der Mitte Europas für Migranten und Flüchtlinge für einen Moment durchlässig geworden zu sein (vergleiche dazu https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/312828/die-geschehnisse-des-septembers-2015/). Aber schon im März 2016 legte die Bundesregierung eine scharfe Kehre in ihrer Migrationspolitik ein, die in das Flüchtlingsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei mündete. Die Vereinbarung sieht insbesondere vor, „dass Asylsuchende, die die Türkei als Transitland genutzt haben und auf den griechischen Inseln erstmals das Territorium der EU betreten, wieder in die Türkei abgeschoben werden sollen. Für jede von den griechischen Inseln in die Türkei abgeschobene Person aus Syrien soll eine andere syrische Person aus der Türkei in der EU neu angesiedelt werden ⟨1:1-Mechanismus⟩“ (vergleiche dazu

Mit dem Mauerfall von 1989 schienen sich die Grenzen erneut zu öffnen. Dabei sind die Grenzen im Zeitalter der Globalisierung nach Steffen Mau von Anfang an nicht offener, sondern in Wirklichkeit zu machtvollen Sortiermaschinen umgebaut worden. Peter Strucks Rede von der Verteidigung von Deutschlands Sicherheit am Hindukusch vom 4. Dezember 2002 gilt im übertragenen Sinn auch für die Außengrenzen des Schengen-Raums. Für den freien Personen- und Warenverkehr innerhalb der Europäischen Union und den Abbau der Grenzen im „Schengenraum“ war und ist die Sicherung der EU-Außengrenzen durch die 2004 gegründete Frontex, die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache wesentlich.

„Im April 2017 wurden systematische Kontrollen aller in die EU einreisenden Personen an den EU-Außengrenzen eingeführt, EU-Bürger miteingeschlossen. Ein neues Einreise-/Ausreise-Registrierungs-System wurde zur Verfolgung der Reiseroute von Nicht-EU-Bürgern durch den Schengen-Raum und zur Beschleunigung der Kontrollen eingeführt. Die Überwachung der Außengrenzen wurde durch die neu gegründete Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache verstärkt. Die europäische Strafverfolgungsbehörde Europol erhielt mehr Befugnisse zur Terrorismusbekämpfung“ (vergleiche dazu https://www.europarl.europa.eu/news/de/headlines/eu-affairs/20180525STO04311/schengen-herausforderungen-des-grenzfreien-raums).

Die Grenzen wurden also nach außen verlagert und zunehmend fortifiziert: Bis in die Neunziger hinein waren etwa fünf Prozent aller 630 Landesgrenzen weltweit befestigt, also mit den Übertritt behindernden Mauern, Zäunen, Wällen oder Stacheldraht versehen. Heute sind es etwa zwanzig Prozent. Dazu kommt die Vorverlagerung der Grenzen nach innen: So kann man sein Gesicht und weitere Daten in einen „Smart Path“ einscannen und wird fortan bei seiner Einreise nicht mehr kontrolliert. Öffnung und Schließung gehören also immer zusammen. 

Nach Mau steuern wir deshalb nicht auf eine grenzenlose und deterritorialisierte Gesellschaft zu. „Vielmehr sind Grenzen, Grenzbefestigungen und Grenzkontrolle Teil der Globalisierung! Aber sie sind in einem radikalen Prozess der operativen, technologischen und räumlichen Veränderung begriffen, um zu performanten und die Globalisierung stützenden Grenzen zu werden. Als Ausgangspunkt … will ich zunächst … den klassischen Zusammenhang zwischen Territorialität und Grenzkontrolle rekapitulieren … Danach nehme ich mich des Entgrenzungsimperativs … an und setze ihm die Vorstellung einer gleichzeitig be- wie entgrenzenden Globalisierung – einer Dialektik von De- und Re-bordering – entgegen … Kapitel 4 wird nicht nur zeigen, dass zeitgleich mit der Globalisierung rund um den Globus Mauerbauaktivitäten einsetzten …, es beschäftigt zugleich mit den Antriebsfaktoren neuer Abschottung und den an diesen Grenzen entstehenden Lagern der Prekarität, in denen Menschen gesammelt, rückgestaut oder aufgehalten werden. Danach wird die Filterfunktion der Grenze betrachtet … Im sechsten Kapitel stehen die ›smart borders‹ im Mittelpunkt … Teil der Veränderung von Grenzregimes ist außerdem das Entstehen neuer makroterritorialer Arrangements im Rahmen von regionalen Integrationsprojekten … : Hier werden – oberhalb der Nationalstaaten, aber auch unterhalb der globalen Ebene – neue Zirkulationsräume geschaffen, die im Binnenverhältnis Offenheit herstellen, im Außenverhältnis aber Schließung reproduzieren oder sogar steigern. Schließlich ist auf Entwicklungen der Exterritorialisierung von Kontrolle, auf Kontrollverschiebungen sowie den Einsatz von Kontrolltechnologien und auf Strategien der ›Fernkontrolle‹, die auf Transitländer oder Herkunftsländer von Reisenden gerichtet sind, hinzuweisen“ (Steffen Mau S. 20 f.).

Im Ergebnis sind Grenzen die wichtigsten Allokationsinstanzen ungleicher Mobilitätsmöglichkeiten: „Mobilität ist unmittelbar mit den operativen Leistungen der Grenzen verknüpft. Sie entscheiden über Zugangsrechte, Grenzpassagen, Kontrollzugriffe und territorialen Ausschluss … Für erwünschte Personen soll … die Grenzpassage ein leichtes, schnelles, kaum spürbares und komfortables ›Hinübergehen‹ sein, für unerwünschte Personen jedoch soll der Grenzübertritt unmöglich werden“ (Steffen Mau S. 156). Die alte Grenze war eine Personengrenze, die alle gleichermaßen kontrollierte. Die neue Grenze unterscheidet nach Grenzpersonen, es ist eine individualisierte Grenze. „Mit dem Wachstum an Informationen, biometrischen Erkenntnissen, Pre-Screening-Verfahren und der Interoperabilität von Datenbanksystemen soll gewährleistet werden, dass die als riskant oder unerwünscht klassifizierten Personen herausgefiltert werden, aber … der Durchstrom … der Minderheit nicht ins Stocken gerät. Als noch weitergehend kann die ›Ausweitung der Grenzzone‹ angesehen werden, bei der Kontrolle und Barrierewirkung in Trans- und Herkunftsländer vorrücken und so dazu beitragen, dass Menschen an dem Ort, an dem sie leben oder sich aufhalten, immobilisiert werden. Es kommt zum Teil tausende Kilometer vor der eigentlichen Landesgrenze und durch die Einbindung Dritter in die Bemühungen um Kontrolle, Monitoring und Migrationsabwehr zur Schaffung eines Cordon sanitaire“ (Steffen Mau S. 157).

ham, 15. Juli 2022

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