Klett-Cotta, Stuttgart 2019, ISBN: 978-3-608-96403-5, 197 Seiten, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen, Format 21 x 13,2 cm, € 20,00 (D) / € 20,60 (A)

Nach dem Sturm von Anhängern des amtierenden Präsidenten Donald Trump auf das Kapitol in Washington, D.C. (vergleiche dazu etwa https://de.wikipedia.org/wiki/Sturm_auf_das_Kapitol_in_Washington_2021 und https://www.spiegel.de/politik/ausland/washington-nach-dem-sturm-auf-das-kapitol-amerika-im-ausnahmezustand-a-37cce6cc-992a-4c10-bd08-66e0fe922d71) mag man sich fragen, warum Trump sich trotz seiner wohl mehr als 22 000 Falschaussagen, glatten Lügen und irreführenden Behauptungen (vergleiche dazu https://www.tagesschau.de/faktenfinder/trump-bilanz-uswahl-fakenews-101.html) im Amt halten und seine Anhänger bis heute an sich binden konnte. 

Nach Wilfried von Bredow und Thomas Noetzel ist es allgemein bekannt, dass überall gelogen wird: „In der Familie wird gelogen, zwischen Ehepartnern, im Sport und in den Kirchen … Und dass in der Wirtschaft einige nur den Bilanzen trauen, die sie selbst gefälscht haben, ist ein bekanntes … Bonmot. Marketingstrategen und Public-Relations-Manager haben aus den Lügen, welche die Werbung uns vorsetzt, ein einträgliches Geschäft gemacht. Auch in der Wissenschaft, die mit Wahrheitsfragen … tagtäglich umgeht, soll schon gelogen worden sein … Unter den strategischen Handlungsmöglichkeiten … nimmt die Täuschung einen wichtigen Platz ein. Lügen, betrügen, verschleiern und verfälschen – das Leben im ›als ob‹ gehört“ von Anfang an zu den menschlichen Möglichkeiten (Wilfried von Bredow und Thomas Noetzel, Politische Urteilskraft, 2009, zitiert nach https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-531-91981-2).

Und in der Politik gilt die Lüge sogar als Tugend und sie wird wohl schon immer strategisch eingesetzt: Nach Niccolo Machiavelli (1469 – 1527) kann und darf ein kluger Fürst „sein Wort nicht halten, wenn er sich selber schaden würde oder die Gründe weggefallen sind, die ihn bestimmen, es zu halten. Wenn alle Menschen gut wären, wäre diese Vorschrift nicht gut; da sie aber schlecht sind und die Treue nicht halten würden, brauchst du sie ihnen auch nicht zu halten“ (Machiavelli, Der Fürst,1513). Ist die Lüge dann in der Politik kein Skandal? Für Machiavelli sicher nicht. Für die 1955 in New Haven, Connecticut geborene Pulitzerpreisträgerin Michiko Kakutani aber schon (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Michiko_Kakutani): Kakutani hat bis Juli 2017 als Literaturkritikerin bei der New York Times gearbeitet und war mit ihren zahlreichen Verrissen gefürchtet. Danach hat sie sich von der New York Times verabschiedet, um sich auf längere Stücke über Politik und Kultur konzentrieren zu können. 

Ihr im Juli 2018 bei Tim Duggan Books erschienenes und 2019 in deutscher Übersetzung bei Klett-Cotta aufgelegtes Buch ›The Death of Truth: Notes on Falsehood in the Age of Trump‹ ist die erste Frucht ihres längeren Nachdenkens. Sie räumt zwar ein, dass auch schon Lenin Verwirrung, Chaos und utopische Versprechungen als Hilfsmittel zur Verwirrung und Anstachelung der Massen eingesetzt hat, Hitler und Goebbels die Massen mit Aufmärschen, Fahnen, Fanfaren und Chören mobilisiert haben und Orwell in seinem Roman ›1984‹ erklärt, wie ›Neusprech‹ die Wahrheit verunklaren und in ihr Gegenteil verkehren kann. Aber sie wollte es schon im zweiten Jahr von Trumps Amtszeit nicht mehr hinnehmen, dass Trumps ›Fake News‹, ›alternative Fakten‹ und Lügen an die Stelle der Wahrheit treten, seine regelmäßigen Angriffe auf die Presse, die Justiz, die Geheimdienste, das Wahlsystem und die Beamten die Institutionen unterminieren, die mit Wahrheit assoziiert werden und die objektive, empirische und evidenzbasierten Wahrheit durch Desinformation angezweifelt wird und in Misskredit kommt. Deshalb fragt sie in ihrem Buch, wie es dazu kommen konnte. „Wo liegen die Wurzeln der Unwahrheit in der Trump-Ära? Wie wurden Wahrheit und Vernunft zu derart bedrohten Arten, und was lässt ihr drohender Zerfall für den öffentlichen Diskurs und die Zukunft unserer Politik und Regierungsführung erwarten? Das sind die Themen des vorliegenden Buches“ (Michiko Kakutani S. 12 f.).

Zu den Hauptursachen zählen für sie neben der auch in Amerika eingewurzelten Tradition des Antiintellektualismus, einer Weltsicht, die mit hitziger Übertreibung, Argwohn, Verschwörungsphantasien und Paranoia verbunden ist, zum einen der mit der Postmoderne einhergehende Relativismus und Nihilismus. Nach Kakutani hat die populistisch Rechte die Argumente des Postmodernismus und seine philosophische Zurückweisung der Objektivität übernommen. Man könne zwar nicht annehmen, dass Trump Derrida, Baudrillard oder Lyotard gelesen hat und man könne die Postmodernisten auch nicht „für den ganzen vagabundierenden Nihilismus draußen im Land verantwortlich machen. Aber einige niveaulose Entsprechungen ihrer Denkweise sind in die volkstümliche Kultur eingesickert und wurden von den Anhängern des Präsidenten vereinnahmt, die mit solchen relativistischen Argumenten seine Lügen entschuldigen wollen, aber auch von Rechten, die die Evolution infrage stellen, den Klimawandel leugnen oder alternative Fakten vertreten. Selbst der berüchtigte Alt-Right-Troll und Verschwörungstheoretiker Mike Cernovich berief sich 2016 … auf die Theorie des Postmodernismus. ›Wissen Sie, ich habe im College etwas über Postmodernismustheorie gelesen. Wenn alles ein Narrativ ist, dann brauchen wir Alternativen zu dem beherrschenden Narrativ‹, sagte er und fügte hinzu: ›Ich sehe nicht aus wie ein Typ, der Lacan liest, oder?‹“ (Michiko Kakutani S. 43 f.).

Parallel zum Postmodernismus steht für Kakutani die ab den 1970er-Jahren aufblühende Kultur des Narzissmus, die Suche nach Selbsterhaltung und psychischem Überleben in einer Zeit, in der sich scheinbar alles wandelt und instabil wird. Man muss sich jetzt selbst darstellen, Selfies von sich posten und hoffen, dass man mit der Zurschaustellung des eigenen Ich andere fesseln kann. „Mit diesem Siegeszug der Subjektivität kam es zur Abwertung der objektiven Wahrheit: Meinung wurde gegenüber Wissen bevorzugt, Gefühle gegenüber Tatsachen – eine Entwicklung, die sich im Aufstieg Trump widerspiegelt“ (Michiko Kakutani S.61). So antwortete Trump 2007 vor Gericht auf die Frage nach seinem Vermögen, „es komme darauf an: ›Mein Nettovermögen schwankt, es geht mit den Märkten und mit Einstellungen und Gefühlen auf und ab, auch mit meinen eigenen Gefühlen‹“. „Auf die Frage, ob er sich bei Wladimir Putin nach russischer Einmischung in der Wahl erkundigt habe, erwiderte er: ›Ich glaube, er hat das Gefühl, dass er und Russland nicht in die Wahl eingegriffen haben‹“ (Michiko Kakutani S.79). 

Schließlich ermöglichen das Internet und das World Wide Web neben dem demokratischen Zugang zur Information auch nahezu grenzenlose Fehl- und Desinformation und die weltweite Verbreitung von Vorurteilen. „Die schiere Menge der Daten im Netz erlaubt es den Menschen, sich nach Belieben Tatsachen, Pseudotatsachen oder Nicht-Tatsachen herauszusuchen, die ihre eigene Sichtweise stützen; Fachleute wie Amateure werden gleichermaßen ermutigt, Material zur Unterstützung ihrer eigenen Theorien zu finden, statt empirische Belege zu überprüfen und damit zu rationalen Schlussfolgerungen zu gelangen. Oder, wie Nicholas Carr … schrieb: ›Wenn wir das Netz durchforsten, sehen wir den Wald nicht. Wir sehen nicht einmal die Bäume. Wir sehen die Zweige und Blätter‹“ (Michiko Kakutani S.117).

In seinem Buch ›Think Big‹ (dt. ›Nicht kleckern, klotzen!‹) hat Trump die Welt zu einem Ort erklärt, in dem es fürchterlicher zugeht als in der Wildnis: „›Die Welt ist ein fürchterlicher Ort. Löwen töten nur zu Nahrungsbeschaffung, aber Menschen töten aus Vergnügen.‹ Und: ›Die gleiche flammende Gier, die Menschen dazu bringt, bei Katastrophen wie zum Beispiel bei Bränden und Überschwemmungen zu plündern, wirkt auch im normalen Alltag der Menschen. Sie lauert direkt unter der Oberfläche; wenn man am wenigsten damit rechnet, hebt sie ihren bösen Kopf und beißt einen. Finden Sie sich damit ab. Die Welt ist brutal. Die Menschen vernichten einen nur zum Spaß oder weil sie vor ihren Freunden angeben wollen‹“ (Donald Trump nach Michiko Kakutani S.147).

Mit seinem Nihilismus ist Trump nach Kakutani in Washington nicht allein. „In ihm spiegelt sich der immer stärkere Verlust des Vertrauens in die Institutionen ebenso wider wie der Verlust des Respektes für die Geltung von Gesetzen, Alltagsnormen und Traditionen. Es ist ein Symptom für unseren Verlust der Höflichkeit, unsere wachsende Unfähigkeit, respektvolle Diskussionen mit Menschen zu führen, die andere Meinungen vertreten als wir selbst und für unsere sinkende Bereitschaft, anderen das Privileg des Zweifels zuzugestehen, Raum für einen ehrlichen Fehler, ein höfliches Anhören zu lassen. Es ist das Gefühl, dass das Leben vom Zufall bestimmt wird und keinen Sinn hat, hinzu kommt eine Sorglosigkeit, was die Folgen angeht“ (Michiko Kakutani S. 149). Wenn alle gegen alle kämpfen und nichts mehr gilt als das eigene Ich, braucht es auch in der Politik keine Wahrheit mehr.

Es bleibt aber auch nach dem 6. Januar 2021 und dem zweiten Impeachment gegen Trump (vergleiche dazu https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-01/washington-kapitol-us-kongress-wahlergebnis-ausschreitungen) die Frage, ob das von Michiko Kakutani messerscharf gezeichnete Bild von Trump und der ihm unterstellte Nihilismus die ganze Person trifft oder nicht. Während des US-Wahlkampfs 2016 hat Trump sich noch als Presbyterianer bezeichnet und vier Jahre später immerhin noch als „nichtkonfessioneller Christ“ (vergleiche dazu https://www.pro-medienmagazin.de/politik/2020/10/27/trump-ist-nichtkonfessioneller-christ/). Und er hat wohl auch, wenn man Johannes Schneider folgt, die Bibel eher hochgehalten als gelesen (vergleiche dazu Johannes Schneider, Trump und die Bibel. Eine Kriegserklärung. In: https://www.zeit.de/kultur/2020-06/donald-trump-bibel-foto-usa-proteste-polizeigewalt-george-floyd). Gleichwohl gilt auch für ihn der eschatologische Vorbehalt: „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an“ (1. Samuel 16,7).

ham, 14. Januar 2021

Kommentare sind geschlossen.

COPYRIGHT © 2023 Helmut A. Müller