Herausgegeben von Michael Sailstorfer. Mit Texten von Johanna Adam, Maria Bremer, Diandra Donecker, Kris Douglas, Bernd Euler. Lukas Feireiss, Friedrich Gräfling, Johanna Gräfling, Sigurd Larsen, Magdalena Mai, Frank Steinhofer, Neville Wakefeld und zwei Gesprächen mit Michael Sailstorfer

DCV / Dr. Cantz’sche Verlagsgesellschaft, Berlin, 2022, ISBN 978-3-96912-106-1, 320 Seiten, 450 Abbildungen, Hardcover in Leinen, Format 30,5 x 24,5 cm, € 45,00

Als Michael Sailstorfer gegen Ende seines Studiums an der Akademie der Bildenden Künste München im Jahr 2005 in der Ursula Blickle Stiftung in Kraichtal – Unteröwisheim ausgestellt hat, konnte er schon auf zahlreiche Auszeichnungen, Ausstellungen unter anderem im Lenbachhaus, München, in der Galerie Markus Richter, Berlin, im Espace d’Art Contemporain, Genève, und viel beachtete Werke wie ›Waldputz‹ (vergleiche dazu https://sailstorfer.com/works/waldputz-2000), ›Herterichstraße 119‹ (vergleiche dazu https://sailstorfer.com/works/herterichstrasse-119-2001), ›3 Ster mit Ausblick‹ (vergleiche dazu https://sailstorfer.com//works/3-ster-mit-ausblick-2002) und ›Und sie bewegt sich doch‹ (vergleiche dazu https://sailstorfer.com//works/und-sie-bewegt-sich-doch-2002) zurückblicken. Bei Ursula Blickle war unter anderem seine ›Sternschnuppe‹ (vergleiche dazu https://sailstorfer.com/works/sternschnuppe-2002) und sein ›Elektrosex‹ (vergleiche dazu https://sailstorfer.com/works/elektrosex-2005 und http://www.kunstmarkt.com/pagesmag/kunst/_id84626-/news_detail.html?_q=%20) zu sehen.

Knapp zwanzig Jahre später sind eine Vielzahl weiterer hoch spannender und so bisher noch nicht gesehener  Werke wie ›1:43-47, Frankfurt‹ (vergleiche dazu https://sailstorfer.com/works/143-47-frankfurt-2008), ›Pulheim gräbt‹ (vergleiche dazu https://sailstorfer.com/exhibitions/pulheim-graebt), ›Himmel Berlin‹ (vergleiche dazu https://sailstorfer.com/works/himmel-berlin-2012), ›Tränen‹ (vergleiche dazu https://sailstorfer.com/works/traenen-12-photographs-2015), ›Very Heavy Cloud‹ (vergleiche dazu https://sailstorfer.com/works/very-heavy-cloud), ›Heavy Eyes 110 Blue Brown‹ (vergleiche dazu https://sailstorfer.com/works/heavy-eyes-110-blue-brown), ›M.S4‹ (vergleiche dazu https://sailstorfer.com/works/m-84), ›Sunglasses 2‹ (vergleiche dazu https://sailstorfer.com/works/sunglasses-2), ›Heavy White‹ (vergleiche dazu https://sailstorfer.com/works/heavy-white) und viele andere mehr dazugekommen.

Der 1979 in Velden / Vils geborene Michael Sailstorfer hatte zwischenzeitlich weitere Auszeichnungen wie den Ars-Viva-Preis 2006, den Kunstpreis junger westen 2011 und den August-Macke-Preis 2017 bekommen. Er stellt weltweit aus, hat seit 2018/19 eine Professur für Bildhauerei an der AdBK Nürnberg inne und steht auf der Liste der 100 Köpfe von morgen, denen 2006 aufgrund ihrer Kreativität und Leistungsbereitschaft eine aussichtsreiche Zukunft vorausgesagt worden ist (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/100_Köpfe_von_morgen). All das verdient eine zusammenfassende Präsentation: Der jetzt vorliegende glänzend gestaltete, gedruckte und ausgestattete Katalog ›Michael Sailstorfer MS 00 22‹ (vergleiche dazu https://dcv-books.com/produkt/ms-00-22-michael-sailstorfer-works-2000-2022/ ) dokumentiert die Weiterentwicklung seines Werks in den letzten 23 Jahren und fasst sie facettenreich und exquisit zusammen: Er zeigt nicht nur, dass Sailstorfer mit einer Vielzahl von Materialien wie Aluminium, Acrylglas, Beton, Bienenwaben, Blei, Bronze, Eisen, Feuer, Gold, Gummi, Glas, Granit, Holz, Keramik, Kohle, Lidschatten, Licht, Magnesium, Marmor, Neon, Pappe, Salz und Stahl bildhauerisch arbeitet, sondern auch, dass sein Werk für unterschiedlichste Interpretationen offen ist und Sailstorfer klassische Themen wie Heimat, den Zugriff auf Vorhandenes und allseits bekannte Ikonen der Kunst- und Filmgeschichte wie Marcel Duchamps ›Flaschentrockner‹, Constantin Brancusis ›Säule der Unendlichkeit‹ und Wim Wenders ›Der Himmel über Berlin‹ in ungewohnte ästhetische Wahrnehmungs- und überraschende Verstehenszusammenhänge transformiert: 

Aus einem überdachten, aber offenen Wartehäuschen an einer Bushaltestelle macht Sailstorfer das Häuschen ›Wohnen mit Verkehrsanbindung‹ (vergleiche dazu https://sailstorfer.com/works/wohnen-mit-verkehrsanbindung-2001), aus Honigwaben und einer Glühbirne die in Bronze gegossenen ›Batterie‹ (vergleiche dazu https://sailstorfer.com/works/batterie-5) und aus Lastwagenschläuchen nicht nur die Außenskulptur ›Tornado‹ (vergleiche dazu https://www.koeniggalerie.com/blogs/public-projects/michael-sailstorfer-tornado) und die Innenskulptur ›Himmel Berlin‹ (vergleiche dazu https://sailstorfer.com/works/himmel-berlin-2012), sondern auch das Unikat ›Very Heavy Cloud‹ (vergleiche dazu https://sailstorfer.com/works/very-heavy-cloud) und im Zusammenspiel mit Eisen und Keramik das ›Einhorn‹ (vergleiche dazu https://sailstorfer.com/works/einhorn-2012). Sailstorfers einjähriges Nachdenken über die Frage, wie aus einem Abbruchhaus in Wiesen im Spessart eine Skulptur werden kann, hat nicht nur zu seinem Video ›Tränen‹ (vergleiche dazu https://sailstorfer.com/works/traenen-12-photographs-2015), sondern auch zu seinem Salzstein in Tränenform (vergleiche dazu https://sailstorfer.com/works/salt-2018), seiner Skulptur ›Cowboy’s Tears‹ (vergleiche dazu https://sailstorfer.com/works/cowboys-tears-1) und seinem ›Tränentrockner‹ (vergleiche dazu https://sailstorfer.com/works/traenentrockner-koeln) geführt.

Wenn er der Berliner Galerie König mit Holzöfen statt mit Automotoren einheizt (vergleiche dazu https://sailstorfer.com/works/brenner-02-2017), kommt einem sein ›3 Ster mit Ausblick‹ (vergleiche dazu https://sailstorfer.com//works/3-ster-mit-ausblick-2002), sein ›Ofen Mailand‹ (vergleiche dazu https://sailstorfer.com/works/ofen-mailand-2017) und vielleicht auch seine Arbeit ›Reaktor‹ (vergleiche dazu https://sailstorfer.com//works/modell-reaktor-2005) in den Sinn: „Ich habe sechs Autokarosserien mit schwarzer, hitzebeständiger Farbe lackieren lassen. Der Motor wurde durch einen Holzofen ersetzt, der während der Ausstellung durchgehend befeuert wurde und die Abzugsrohre gingen durch die Decke der Galerie, in einer Höhe von dreizehn Metern, nach draußen. Wie eine schwarze Linienzeichnung im Raum. Was bei Reaktor die Akustik war, war hier die Hitze. Der Raum wurde zur Sauna, das war ziemlich klaustrophobisch. Es erinnerte an eine Produktionsstraße in einer Autofabrik, wo die Autos über ein Fließband laufen. Und auf der anderen Seite war es ein Verkehrsstau, der Hitze freisetzt. Ein postapokalyptisches Bild, diese brennenden Karosserien, die Hitze erzeugten und den Galerieraum beheizten, der Jahre zuvor eine Kirche war. Ich mochte, dass die Kirche zur Fabrik wurde und dass der Rauch durch die Schornsteine aus der Kirche kam. Das Werk wurde speziell für diesen Ausstellungsraum konzipiert. Unten am Eingang war ein großer Holzhaufen, im ersten Stock die Autos und im Glockenturm wurde das Video Tränen gezeigt. Fast als ob die Hitze kondensieren und das Wasser dann auf das Haus heruntertropfen und es am Ende mitsamt der ganzen Umgebung zerstört werden würde“ (Michael Sailstorfer im Katalog S. 255). „Das muss Johann gefallen haben!“ (Neville Wakefield a. a. O.). „Nicht wirklich (Gelächter). Johann war ein bisschen nervös, aber für uns beide war es eine wichtige Ausstellung“ (Michael Sailstorfer a. a. O.).

Dass Künstler Blei als Werkstoff einsetzen, zeigen unter anderem Arbeiten von Anselm Kiefer, Günther Förg und Joseph Beuys. Dass Sailstorfer Bleibleche mit Lidschatten bemalt, ist in dieser Kombination neu (vergleiche dazu https://sailstorfer.com/works/heavy-eyes-115-vanilla und https://sailstorfer.com/works/heavy-eyes-79-naval-blue). „Die Verwendung von Blei bietet den Ausgangspunkt für eine Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten, wobei sein Gewicht oder seine Schwere, seine Giftigkeit und seine unterschiedlichen Arten, wie das Material in der Geschichte eingesetzt wurden, eine entscheidende Rolle spielen. In besonderem Gegensatz zu dem Blei steht der aufgetragene Lidschatten, irgendwie weich und feminin, um Schönheit zu erzeugen oder zu verstärken. Auf die gleiche Weise kann Kosmetik das betonen und unterstreichen, was schon vorhanden ist, aber sie kann auch das Ungewollte verdecken oder maskieren … Vielleicht haben wir müde Augen, die wir kaschieren oder auf gewisse Weise hinter einer ‚Maske‘ verstecken wollen. Deshalb zeigt die Kombination von Material und der ganz spezielle Einsatz von Farbe den Betrachter❊innen ein Objekt, das einerseits eine sehr persönliche Wahl und andererseits kollektive Seinszustände außerhalb unserer Kontrolle suggeriert. Oder anders gesagt: Mit der Modifizierung des Gebrauchs dieser Materialien bekommen wir Artefakte vorgeführt, die sich nur vordergründig innerhalb der Grenzen einer bekannten Ästhetik präsentieren. Aber nach eingehender Begutachtung und Überprüfung der Details können wir unsere Sichtweise verändern und Sailstorfers … Objekte und ihre komplexen persönlichen, sozialen, historischen und konzeptionellen Wurzeln verstehen“ (Kris Douglas im Katalog S. 181).

Maria Bremer setzt sich in ihrem Beitrag mit Sailstorfers Auslotung der Nutzungszusammenhänge und Eigenschaften des bildhauerischen Materials auseinander. Nach ihrer Auffassung beruht der Reiz seiner Werke auf einem unerwarteten Umgang mit allgemein vertrauten Gegenständen und Phänomenen aus den Bereichen der Natur und der Technik: „dem Wald, dem Meer, dem Mond, Häusern, Fundstücken, Fahrzeugen, Leuchten, Autoreifen. Vorhandenes wird zum Ausgangsmaterial für skulpturale Objekte, die entweder prozessual angelegt sind oder ihren Produktionsprozess im Ergebnis sichtbar belassen: ›Der Prozess der Herstellung (…) ist der wichtigste Teil (…), sogar noch wichtiger als das fertige Objekt. Deshalb muss letztlich jeder Schritt in dem Werk klar zu erkennen sein. Es muss klar sein, wo das Material herkommt, genauso wie alle Spuren der Herstellung der Skulptur‹ (Michael Sailstorfer). Darüber hinaus schafft Sailstorfer regelmäßig Versuchsanordnungen, die unvorhergesehene Abläufe mit gestalterischen Effekten in Gang bringen. Eine  geometrische Lichtung im Wald (Waldputz. 2000 …). Ein Autoreifen, der sich an der Galeriewand abnutzt (Zeit ist keine Autobahn. https://sailstorfer.com/works/zeit-ist-keine-autobahn—frankfurt-2008). Endlos produzierende, aus Betonmischern gebaute Popcornmaschinen, die den Ausstellungsraum mit Popcorn füllen (1:43-47 …) … Bei diesen Umformatierungen von Objekten und Materialien werden die Werke zu Schauplätzen semantischer Destabilisierung: Es verschieben sich gängige Bedeutungen und Nutzungspraktiken.

Bisher wurden Sailstorfers Arbeiten zumeist als Auseinandersetzung mit den Grenzen zwischen Natur und Kultur, innen und außen besprochen. Oder es wurden Aspekte der Vergänglichkeit und des Slapsticks hervorgehoben. Neue Werke des Künstlers tragen zwar weiterhin zu dieser thematischen Bandbreite bei. Sie erweitern sie jedoch zugleich um eine Suchbewegung, die offensichtlicher um das relationale Potenzial der Skulptur kreist. Affektive Resonanzen, Materialtransformationen und Prozesse der ›Verlebendigung‹ stehen nun stärker im Fokus. Sprachspiele, symbolische oder metaphorische Aufladungen rücken dagegen in den Hintergrund. Anders gewendet wird das Material selbst einschließlich seiner vielfältigen Beziehungen künstlerisch untersucht. Diese Verschiebung verbindet Sailstorfers Arbeiten mit der Tendenz der Neuen Materialismen. Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat eine Aufwertung der Eigenlogik der Materie und Artefakte verschiedene Wissensbereiche erfasst und das langjährige allgemeine Interesse für diskursive Prozesse, kulturelle Praktiken oder soziale Konstruktionen um einen materiellen Gegenpol ergänzt. Sailstorfers Beschäftigung mit Blickbeziehungen, Materialverhältnissen und -kreisläufen gewinnt vor diesem Hintergrund an zeitgenössischer Prägnanz“ (Maria Bremer im Katalog S. 106 f.; zum Neuen Materialismus vergleiche etwa https://publications.goettingen-research-online.de/handle/2/92306).

ham, 22. Februar 2023

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