Klett-Cotta in der J. G. Cotta’schen Buchhandlung Nachfolger GmbH, 2021, ISBN 978-3-608-96486-8, 

624 Seiten, 18 Abbildungen, Hardcover gebunden, Schutzumschlag, Format 23,3 x 16 cm, € 32,00 (D) / 

€ 32,90 (A)

Nach der Ablösung der Theologie als Leitwissenschaft haben unter anderem die Philosophie, die Evolutionslehre, die Psychoanalyse, die Soziologie und die Psychologie um den Vorrang in der Deutung des Menschen gestritten. Die Naturwissenschaften waren bis in das 19. Jahrhundert hinein kaum in diesen Streit involviert und haben auch wenig zu der Frage nach der conditio humana beigetragen (vergleiche dazu https://www.radiochirurgicum.de/radiologe-prof-dr-martin-bleif.php und Martin Bleif S. 12). Dies hat sich, wenn man dem studierten Literatur- und Sprachwissenschaftler, Mediziner, Radioonkologen und Leiter des Radiochirurgicum /CyberKnife Südwest Martin Bleif folgt, in den letzten 150 Jahren dramatisch geändert. In seiner Monografie will er zeigen, dass Menschen in ihren biologischen Grenzen und Freiheitsgraden die interessantesten und widersprüchlichen Wesen sind, „die unsere Erde hervorgebracht hat“ (Martin Bleif S. 534).

Bleif deutet den Menschen im Anschluss an die Evolutionslehre von Charles Darwin als ein aus Molekülen, Genen, Zellen und Organen wie dem Gehirn aufgebautes Wesen, dessen biologische Wurzeln kulturell überformt sind. „Wir stehen in einer evolutionären Tradition, die über 3,4 Milliarden Jahre alt ist. Unsere Gene, Zellen, Organe gehorchen denselben physikalischen und chemischen Gesetzen wie die von Mäusen oder Gänseblümchen. Davon können wir uns nicht freimachen. Trotz dieser Bedingtheit hat sich kein anderes Tier stärker von seinen biologischen Wurzeln und von genetisch programmiertem, instinktiv motiviertem Verhalten emanzipiert als wir … Wir sind Tiere, die noch zur und in die Natur gehören, die uns hervorgebracht hat; wir sind aber die Kulturwesen, die genau diese Tiere, die wir einmal waren, selbst erschaffen haben … Wir haben das Weltgebäude um eine weitere Etage erweitert, in dem die Kultur zuhause ist … Mitten im obersten Geschoss logiert ein prominenter Gast, der seine biologische Herkunft nicht verleugnen kann: unsere Sprachbefähigung … Das Bild, das die Biologie vom Menschen zeichnet, ist ambivalent, verwirrend, aber keinesfalls rabenschwarz … Wir halten uns für ein Tier mit ›ganz besonderen Freiheitsgraden‹, eine Tierart, die sich von ihrer ›Natur‹ weitgehend, aber nicht vollständig emanzipiert hat“ (Martin Bleif S. 533 f.). 

Die vier Kapitel Evolution, Gene, Zellen und Gehirne verdeutlichen, „dass fast nie ein gerader Weg vom Gen zum Merkmal oder zum Verhalten führt. Diese Beziehungen sind schillernd und ambivalent. Zellen sind in der Hand ihrer Gene, die Gene aber auch in der Hand der Zellen. Auf allen Ebenen hat die Umwelt Chancen, einzugreifen. Daran ist noch nichts spezifisch menschliches. Das gilt für Mücken und Mäuse“ (Martin Bleif S. 534 f.). Wir gehören als Menschen zu Gruppen, grenzen uns gegen andere Gruppen ab und haben doch auch noch andere Möglichkeiten. „Jeder gehört gleichzeitig vielen, manchmal sogar widersprüchlichen  Gruppen an. Ich bin ein Deutscher, Schwabe, alleinerziehender Vater, Arzt, Agnostiker, Arbeitgeber, Skifahrer und vieles andere mehr. Ich kann mich meiner Disposition zur Eigengruppensolidarität … nicht völlig entziehen. Trotzdem … kann ich priorisieren“ und meine biologischen Dispositionen überformen. „Wir werden in Kulturen, die wir selbst geschaffen haben, hineingeboren. Hier, im obersten Stockwerk des Weltgebäudes, fühlen wir uns heimisch, weit mehr als in der Natur, aus der wir stammen“ (Martin Bleif S. 536 f.). Menschen, die sich aufgemacht haben, die unteren Stockwerke des Weltgebäudes zu erforschen, um etwas über die Wurzeln, über die Natur und ihre Gesetze zu erfahren, waren vielen Kulturen lange Zeit unheimlich. „Nicht umsonst war der Genuss der verbotenen Äpfel vom Baum der Erkenntnis Anlass für die Vertreibung aus dem Paradies, und Prometheus musste bekanntermaßen schwer büßen, weil er es wagte, sich als Feuerbringer zum Lehrmeister der Zivilisation zu erheben. Bis heute sind Naturwissenschaftler im öffentlichen Bewusstsein ambivalente Figuren“ (Martin Bleif S. 537). Trotzdem hilft der biologische Blick weiter, wenn man ihn nicht überstrapaziert.

Bleifs weit ausgreifender Durchgang durch den biologischen Blick auf den Menschen zeigt ihn als umfassend informierten und detailgenauen Naturwissenschaftler, der die offenen Stellen seiner Disziplin kennt, benennt und diskutiert. Dass er sich darüber hinaus auch in den geisteswissenschaftlichen Traditionen auskennt, zeigen seine Ausflüge zu Platon, Aristoteles, Plotin, Augustinus, Spinoza, Swedenborg, Pius IX., Elie Wiesel und anderen. Von Wiesel stammt die Regel, dass wir einen einzelnen Menschen nie als Abstraktion betrachten dürfen. Swedenborg war einer der Ersten, der auf die Idee kam, dass verschiedene Hirnareale unterschiedliche Funktionen haben könnten. Schon Augustin und Spinoza sind davon ausgegangen, dass der Mensch von bewussten Motiven wie auch von unbewussten Wünschen und Trieben gesteuert ist. Und Aristoteles’ Diktum vom Menschen als einem Zoon politikon hat in gewisser Weise den Gedanken vorweggenommen, dass das Bewusstsein den Menschen in besonderem Maß zu einem sozialen Wesen macht.

ham, 2. Februar 2022

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