Jul 30

Klaas Huizing, Lebenslehre

Von Helmut A. Müller | In Sachbuch Theologie

Eine Theologie für das 21. Jahrhundert

Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2022, ISBN 978-3-579-074672, 767 Seiten, 5 s/w und 10 farbige Abbildungen, Hardcover, mit Lesebändchen und Schutzumschlag, € 38,00

Die jüngst von dem in Würzburg Systematische Theologie lehrenden niederländischen evangelischen Theologe Klaas Huizing unter dem Titel ›Lebenslehre. Eine Theologie für das 21. Jahrhundert‹ vorgelegte protestantische Dogmatik beginnt mit folgendem für dieses Genre völlig ungewöhnlichen Vorspiel: Huizing hatte Diedrich Steen, dem Programmleiter des Gütersloher Verlagshauses, eine unter der Überschrift ›Ziemlich gut‹ zusammengefasste Disposition seines Projekts einer weisheitlichen Lebenslehre zukommen lassen, diese in die Großkapitel

›Leben von und in | Lebensanfang und Lebensgenuss | Gott | Dankbarkeit‹, 

›Leben mit und für | Lebensorientierung und spielerische Identifizierung | Jesus Christus | Liebe‹,

›Leben durch | Lebensmacht und kreative Lebendigkeit | heiliger Geist | Freude‹ und

›Leben bei | Lebensfeier | Ewigkeit | Friede‹ 

unterteilt und in einer Roadmap wie folgt skizziert: „Meine Lebenslehre konzentriert sich auf die Bewahrung des Heils. Die Grundidee ist die präventive Sicht: Heil ist stets eine positive Erfahrungsqualität. Nicht länger geht es um die Wiedererlangung eines verloren gegangenen Heils (Stichwort: Sündenfall), sondern um die Bewahrung des Heils. Heil wird aus phänomenologischer Sicht von der leiblichen Betroffenheit her evident als tiefe Freude erfahren. Zugleich macht die evidente Erfahrung des Heiligen / Göttlichen in einem Atemzug sensibel für die Spurensuche des Heiligen / Göttlichen in der Lebenswelt. Biblische Autoren wollen nichts weniger als in sehr unterschiedlichen Formen den ›Himmel zum Sprechen bringen‹ und machen Angebote, diese Erfahrungen im Medium des Textes zu vollziehen.

Ein nächster Essay konzentriert sich auf die theologische Diversity im Alten Testament. Ich unterscheide theologische Rationalisierungen von Heiligkeitsatmosphären, die zu den Idealtypen Priester, Prophetin und Weisheitslehrerin führen. Im Anschluss an Vorschläge der Exegetinnen und Exegeten zeige ich, wie diese unterschiedlichen Rationalisierungen stilistisch eingefangen werden und Angebote für die Leserinnen machen, sich damit spielerisch zu identifizieren. Daran schließt sich eine erste Kartierung der Weisheitslehre an. 

In der Schöpfungslehre favorisiere ich … die Rede von der Frau Weisheit in Prov 1– 9. Diese Schöpfungslehre erschließt eine Alternative zu den traditionellen Schöpfungstheologien in Gen 1-9 … Dank der …strikt weisheitlichen Schöpfungstheologie bekommt die … Schöpfungslehre eine  ganz andere, sprich heitere, Tönung, die sich im genussvollen Leben von den Köstlichkeiten der geschaffenen Welt einstellt und jene Dankbarkeit und Wertschätzung einstiftet, die dazu ermuntert, diese Welt als Nahrung (Levinas, Pelluchon), auch für fernere Generationen zu schonen. Dieses Habitat, das wir bewohnen, soll wohnlich bleiben. Mir geht es um einen atmosphärischen Neustart, der auch die erotische Ökonomie des jüdisch-christlichen Denkformats feiert … Die von ›Gott‹ zunächst hoch kreativ ›gewebte Frau Weisheit begeistert ›Gott‹. Dieser Eros zeigt sich in den Anmutsqualitäten der Welt, von Rad kann deshalb von der ›Selbstoffenbarung der Schöpfung‹ sprechen, die zu einer Liebe zur Welt einlädt, in der man lustvoll baden kann. Primordial ist diese positive Weltliebe, unser leben von ihr … Darin besteht der Reiz der Dichtertheologie aus Prov 1 – 9: Als Künstler erschafft sich Gott eine hochindividuelle Inspirationsquelle, die dabei hilft, die Welt zu einer amikablen Wohnung zu machen …

Für einen der Aufklärung verbundenen Theologen nicht ungewöhnlich liegt ein Schwergewicht auf der Anthropologie. Dass mein Menschenbild optimistisch und nicht ›sündenverbiestert‹ auftritt, ist der Umbauarbeit am Sündenbegriff geschuldet … Mit Hermann Schmitz plädiere ich nachhaltig für eine Leibanthropologie. Das ›biblische ›Plakat‹ Jesus Christus (Christologie) verdichtet und belebt das Bild des Weisheitslehrers, der mit seinem ausstrahlenden, immersiven Eindruck Leserinnen und Leser in die Geschichten hineinzieht und das Angebot eines Richtungssinns unterbreitet. Die bei Hermann Schmitz aufgelesene Schlüsselformulierung seiner Symboltheorie … lautet: spielerische Identifizierung, die uns zu selbstbewussten Darstellungen im Alltag kräftigt und animiert … Die Lehre vom heiligen Geist entwickle ich als praktische Pneumatologie. Eine weisheitliche Lebenslehre beschreibt ein vorausschauendes Leben im Spielraum des heiligen Geistes als leben durch die Erfahrung des Heiligen … Im letzten Kapitel …, in der Eschatologie, wird das leben bei präziser gefasst. Thema ist das von Festschreibungen erlöste ewige Leben in der Atmosphäre ewigen Friedens. Ein knapper Anhang trägt Ergebnisse der Weisheitstheologie zu einer Lebenslehre zusammen“ (Klaas Huizing S. 29 ff.).

Steen hatte diese dichte Vorschau als PDF erhalten, aber sie schien ihm nach einer ersten Lektüre schwer vermittelbar. Deshalb hat er den Autor ganz ungeschminkt gefragt, ob er noch einmal knapp zusammenfassen kann, was die Leser und Leserinnen Neues aus seiner Werkstatt der Theologie erfahren. Huizing spricht dann unter anderem von einer grundsätzlichen Umformierung des Sündenbegriffs und seiner präventiven Wendung: Wie lassen sich Schuld und Sünde vermeiden? Dass man ihm dann katholisierende Tendenzen unterstellen könnte, stört ihn nicht. Zugang zur Transzendenz geschieht über die Leiberfahrung; das ist für ihn das zentrale Thema für eine Theologie des 21. Jahrhunderts. Schließlich plädiert Huizing nicht für die Unsterblichkeit der Seele, sondern für die Unsterblichkeit des Leibes.

Als Steen wissen möchte, wer das Zielpublikum der Publikation sein soll, denkt Huizing zunächst an die religiösen ErziehungsberaterInnen, also an ReligionspädagogInnen und PfarrerInnen, dann auch an alle am Christentum interessierten Leser (vergleiche dazu und zum Folgenden Klaas Huizing S 35 f.). Er scheint aber auch zu ahnen, dass viele Leser von seinen weit ausgreifenden und komplexen Essays und ihren vielen Verweisen auf die aktuellen Diskussionen und die Teilnehmer der Debatten überfordert sind. Deshalb beugt er vor, will die Grenzen zwischen Sachbuch und Fachbuch abgebaut wissen, spricht von Schwarzbrot und erklärt, dass die Systematische Theologie eine hoch elaborierte Wissenschaft sei. Er sei aber weiterhin von der Idee der Bildungsbürgerin überzeugt, die sich Anstrengungen zumutet. Und irgendwann setze auch beim Lesen der flow ein.

Abschließend fasst Huizing seine Lebenslehre in folgenden Lebensregeln zusammen (vergleiche dazu Klaas Huizing S. 563 ff.):

1.    Werden Sie ein Besinnungs-Biest: Besinnen Sie sich auf und wertschätzen Sie Ihr Leben in   

       ihrer Umgebung.

       Das ist der elementare Imperativ einer Leibphänomenologie als Lebenslehre. Die Pointe ist:  

       Ich lerne mich überhaupt erst kennen durch die leibliche Betroffenheit. Der Leib ist das 

       Urmedium der Resonanz und Ausgangspunkt für unsere Wahrnehmung, unser Spüren, unser 

       Erleben. Finden Sie Ihren Platz und Ihre eigene Lebensform in einer resonanten Welt.

2.    Betreiben Sie Leibpflege.

       Trainieren Sie Ihre leibliche Resonanzoffenheit. Bleiben Sie irritier- und betreffbar. Entdecken

       Sie Ihre leibliche Disposition, Ihren vitalen Antrieb und bilden Sie Ihren eigenen Stil des

       Fühlens, Gesinnung genannt. Pardon, aber dazu zählt auch der Imperativ: Reißen Sie sich

       zusammen! Denken Sie daran: Engung und Weitung, Einatmen und Ausatmen bilden den Spiel-

       raum der leiblichen Ökonomie und Ihrer Lebendigkeit. Resonanz und Robustheit gehören

       zusammen.

3.    Werden Sie ein Gourmand.

       Ein Gourmand, kein Vielfraß. Die Welt ist Nahrung. Wir leben von einer italienischen Land-

       schaft, die uns mit ihrer anmutigen Gestalt anspricht, vom lieblichen Tauber-Tal, von einem

       schrecklich-faszinierenden Wasserfall, von der Fülle kreativer Verdichtungen unserer sym-

       bolischen oder bildnerischen Arbeit, der Architektur, der Kunst, der technischen Kreativität.

       Starten Sie zunächst nicht mit apokalyptischen Weltbildern, sondern mit Bildern der Weltliebe. 

       Die Welt, in der wir leben, ist unser Habitat, keine Ressource. Hermann Schmitz hat deshalb

       die Andacht dem Genuss vorgeschaltet. Andächtiger Genuss macht dankbar, demütig und zu-

       gleich leidenssensibel für gefährdetes Leben und das gefährdete Habitat.

4.    Feiern Sie häufiger Geburtstag, ohne älter zu werden.

       Auf die Welt kommen wir, Neugeborene werden wir in jenen Situationen, die den spürbaren 

       und verwundbaren Leib in die Enge treiben – im Schrecken, in der plötzlichen Umarmung, im

       Atemstocken, in der Überwältigung, in der atemlosen Freude, sogar im Schmerz. Das Christen-

        tum ist im besten Sinn Geburtlichkeitsreligion oder Weihnachtschristentum. Weihnachten ist 

        das wirkmächtigste Bild für einen Neuanfang.

5.     Testen Sie eine religiöse Weltdeutung.

        Woher rührt die Weltliebe und die positive Erfahrung von Kontingenz? Das Weisheitsgedicht 

        aus den Sprüchen Salomonis erzählt davon, dass die Welt auf Eros, Spiel und Tanz gründet. 

        Lebensweltliche Kreativität partizipiert an  dieser der Welt eingeschriebenen Matrix. Niemand

        muss alles selber machen, weil die göttliche Vorsehung der Welt Entwicklungsfähigkeit, Le-

        bendigkeit  und Kreativität fürsorglich eingeschrieben hat. 

6.    Pflegen Sie das Imaginäre.

       Erzählte, szenisch gebaute Geschichten, Theopoesien ermuntern stärker dazu, das Habitat auch 

       für spätere Generationen zu schützen als kluge Manifeste. Weil diese Erzählungen Szenen dicht

       vor Augen malen, in die man leiblich eingebunden wird, wird die Weltliebe atmosphärisch 

       dicht erfahren.

7.    Werden Sie eine trainierte SpielerIn.

       Wir können gar nicht anders, wir müssen spielen, damit uns ein Richtungswechsel und der Sinn

       des Lebens erschlossen wird. Oft sind es die Großeltern, die die entscheidenden Anstöße geben.

       Wenn die große Liebe ausbleibt oder scheitert, gibt es andere Erfahrungen wie die Rückbesin-

       nung auf Lehrerinnen oder Lehrer, die bei Ihnen früh Potenziale entdeckt haben, Erfahrungen  

       der großen Kunst oder die medial präsentierte Begegnung mit Heldinnen und Helden, Halb-

       göttern und Heilsbringern. Aber bleiben Sie kritisch.

8.    Prüfen Sie Angebote spielerischer Identifizierung.

       Nachleben meint nicht Nachahmung, sondern spielerische Identifizierung, die eine jemeinige 

       Darstellung des eingeleibten Lebensgefühls verlangt. Die Vernunft steht im Dienst der Selbst-

       verwirklichung und prüft die affektive Betroffenheit darauf, ob sie für Sie eine Autorität dar-

       stellt.

9   Ist der plakatierte Jesus Christus für Sie ein religiöses Role-Model?

       Nach Hermann Schmitz sind Götter Anmutungen atmosphärischer Mächte, Jesus Christus ist 

       ein personaler Gott, der die Macht der Liebesatmosphäre in einer bestimmten Tönung einge-

       leibt oder verdichtet hat. Weil dieser Jesus Christus als vierfaches Plakat tradiert wird, ist die

       Angebotsbreite für spielerische Identifizierungen groß und kann zu ganz unterschiedlichen 

       Darstellungsweisen motivieren. Letztlich geht es aber dank der garantierten Heiligkeit der

       Person um Selbstzurücknahme, Opferbereitschaft und Statusverzicht zugunsten eines

       friedlichen, gewaltfreien, aber auch genussvollen Lebens in unserer Weltwohnung.

10.  Sorgen Sie für Ihre spirituelle Grundversorgung.

       Der schöpferische Geist Gottes wird immer bei erfahrenen Neu- und kreativen Zwischenfällen

       als kreative Kraft erfahren, nimmt aber auch gerne Wohnung in anregenden Landschaften, im 

       Gehäuse der Kunst oder in Kirchengebäuden und Gottesdiensten, denen es gelingt, Atmosphä-     

       ren der Freude zu inszenieren.  

11.  Prüfen Sie das abenteuernde Angebot eines ewigen Leibeslebens.

       Unser Leib reicht weiter als unser Körper und kann vielleicht ganz aus dem Körper ausreisen. 

       Lebendigkeit bedeutet, hinterfragbar zu bleiben. Das Selbstbild soll nicht festgeschrieben wer-

       den. Auch der Tod darf diese Macht nicht ausüben. Ewiges Leben bedeutet dann die Erlösung 

       von der Geschichte, die mich festschreibt. Freiheit muss den Tod überdauern, schließt aber ein

       letztes Hinterfragen ein, das mich in die Scham treibt und dazu bringt, mich endgültig klärend 

       zu finden. Dann wird finale Versöhnung möglich, dann küssen sich Gerechtigkeit und 

       Frieden (Psalm 85, 11).

12.  Friede, Freude, Eierkuchen – neu durchlebt.

       Dr. Motte hat das Gedicht hoch kreativ neu entdeckt: Friede stand dann für friedensbewegte

       Abrüstung, Freude in der Form von Musik und Tanz für Völkerverständigung und Eierkuchen

        für eine weltweite Nahrungsmittelgerechtigkeit. Ich plädiere für eine präventive 

        Friedensarbeit, die die nötige Selbstbildkritik und den Ursprung der Gewalt aufklärt, bewegte

        Freude, Kottbullar (gerne auch in der vegetarischen oder veganer Form).

Wenn man die 568 eng beschriebenen Textseiten ernsthaft liest und zu verstehen versucht, wahrnimmt, dass Huizing den aktuellen Stand der exegetischen und systematischen theologischen Fachdiskussion akribisch auf- und in seinen Text eingearbeitet hat und seine 129 Seiten Anmerkungen, 62 Seiten Literatur und sein Personenregister von 11 Seiten zur Kenntnis nimmt, kommt man ins Schwitzen und fragt sich, ob er wie sein leibphänomenologisches Idol Hermann Schmitz ⟨vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Schmitz_(Philosoph) und https://www.philomag.de/artikel/hermann-schmitz-gefuehle-sind-keine-privatsache⟩ ein fotografisches Gedächtnis hat und alles, was er jemals gelesen hat, aus dem Gedächtnis wortgenau zitieren und reproduzieren kann. Deshalb ist es hilfreich, dass er seine in den Essays entfalteten Thesen jeweils kurz und knapp rekapituliert, sich den Fragen seiner Studenten stellt und seine Gedankengänge in seinen Antworten noch einmal variiert. Vielleicht wäre es aber bei einem zweiten Durchgang sinnvoll, zuerst die Rekapitulationen, dann die Essays und schließlich auch noch die Antworten auf die Fragen seiner Studenten zu lesen. Ob man dann noch seiner Neuformierung der protestantischen Dogmatik in Teilen oder ganz folgen will oder nicht, steht auf einem anderen Blatt.

ham, 29. Juli 2022

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