Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Elsbeth Ranke und Sabine Reinhardus

Klett-Cotta, Stuttgart 2021, ISBN: 978-3-608-98331-9, 468 Seiten mit mehr als 60 Abbildungen und farbigen Zeitstreifen, gebunden, mit Schutzumschlag, Format 23,1 x 16,5 cm, € 28,00 (D) / € 28,80 (A)

Faust will in Goethes gleichnamiger Tragödie wissen, was die Welt im Innersten zusammen hält. Andere auch. Deshalb beobachten Menschen seit Menschengedenken das Leben, die Natur, die Umwelt, die Sterne und die Zeitläufte und stellen dabei fest, dass zur Wirklichkeit auch das Risiko und zum Kosmos Chaos und Tod gehören und der natürliche Lebensraum bedroht ist. Die neuerdings wieder einmal bezweifelte Urknalltheorie (vergleiche dazu https://www.futurezone.de/science/article401474/urknalltheorie-falsch.html und Andreas Jäger, Überraschung im Universum. Wie ist das All entstanden? Neue Daten stellen die herkömmliche Erklärung infrage. In: SZ Nr. 51 vom 2. März 2023, S. 12) geht davon aus, dass Materie, Raum und Zeit vor 13,8 Milliarden Jahren (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Urknall) und die Erde vor etwa 4,5 oder 4,6 Milliarden Jahren entstanden sind. Evolutionstheoretiker datieren die Vorfahren allen irdischen Lebens auf etwa eine halbe Milliarde Jahre nach der Entstehung der Erde. Demnach hätte sich die erste Zelle, der Urorganismus, die Mutter allen Lebens, der sie den Namen LUCA (englisch Last Universal Common/Cellular Ancestor) gegeben haben, vor 4 bis 3,8 Milliarden Jahren herausgebildet. 

„Diese Zelle … war bereits ziemlich raffiniert, und indem sie überlebte, gab sie ihre überlebensrelevanten Merkmale an jede Zelle weiter, die seither gelebt hat, also auch an alle unsere Körperzellen … Wahrscheinlich war LUCA nicht die allererste Lebensform. Eine Zelle ist ein kompliziertes Gebilde, eine biologische Maschinerie, und LUCA war nicht einfach so plötzlich da und voll funktionsfähig. In frühen Gewässern auf der Erde bildeten RNA, DNA und Proteine primitive Urformen des Lebens, sogenannte Protozellen. Aus diesen unsystematischen biologischen Versuchen entstand irgendwann LUCA“ (Joseph LeDoux S. 36 f.). LeDoux zeichnet im Diskurs mit führenden Fachwissenschaftlern den kompletten Bogen der Entwicklung nach, durch die wir in über vier Milliarden Jahren Bewusstsein und damit zu dem geworden sind, „was wir sind: vom Anfang des Lebens mit den allerersten Mikroorganismen bis zum Aufkommen unserer Fähigkeit, uns der Existenz unseres Selbst und unserer Gedanken, Erinnerungen und Emotionen bewusst zu sein“ (Joseph LeDoux S. 21). 

Um die komplexen psychologischen Funktionen unseres Gehirns zu begreifen, müssen wir nach LeDoux tief in unsere eigene Geschichte zurückgehen. „Wie die Wurzeln eines Baums sind die tiefen Wurzeln unseres Gehirns und seiner Fähigkeiten in Kognition und Verhalten unsichtbar; wir müssen lange graben, um sie zu bergen und zu verstehen. Und wir müssen an anderen Säugetieren vorbeigraben, an anderen Wirbeltieren, und sogar an den wirbellosen Vorfahren der Wirbeltiere. Wir müssen hinuntergraben bis zu den uralten einzelligen Mikroorganismen, den allerersten Lebensformen der Erde“ (Joseph LeDoux S. 26 f.). 

Zwar haben einzellige Organismen wie Bakterien noch kein Nervensystem und erst recht kein Gehirn, aber sie mussten bereits vor Milliarden von Jahren zentrale Überlebensvoraussetzungen erfüllen und ihre Strategien an alle nachfolgenden Organismen weitergeben. „So mussten etwa schon die ersten Bakterien – ganz wie heutige Bakterien und auch wir Menschen – Gefahren erkennen und darauf reagieren, Nährstoffe und Energie aufnehmen und ihren Flüssigkeitshaushalt regulieren. Und sie mussten sich fortpflanzen, damit ihre Art überleben konnte … Nervensysteme betraten die Bühne erst sehr viel später. Als Organismen sich zu mehrzelligen Gebilden entwickelten, wurde es eine immer komplexere Aufgabe, ihr Verhalten so zu steuern, dass sie die uralten Herausforderungen, die sich schon den Einzellern gestellt hatten, bewältigen und damit überleben konnten, denn jetzt mussten die Aktivitäten von Zellen koordiniert werden, die sich auf ganz unterschiedliche Körperregionen verteilten. Dies führte zunächst zu einfachen Nervensystemen, sogenannten Nervennetzen – bei Lebewesen wie Polypen und Quallen –, und schließlich zu Nervensystemen mit einer zentralen Steuerungseinheit, dem Gehirn“ (Joseph LeDoux S. 27).

Zu den zentralen Funktionen von zentralen Nervensystemen und Gehirnen gehört auch die Aktivierung von überlebenssichernden Schaltkreisen. „Überlebenssichernde Schaltkreise und die globalen organismischen Zustände, die sie auslösen, kontrollieren das Verhalten nichtbewusst. In Organismen, die zu bewusster Selbstwahrnehmung ihrer eigenen Gehirnaktivitäten imstande sind, können die verschiedenen Komponenten  eines globalen Überlebenszustandes allerdings auch bewusste Emotionen beeinflussen, die dann wiederum zur deliberativen Kontrolle emotionalen Verhaltens führen. Insofern können emotionale Gefühle zu echten Konsequenzen in unserem Leben führen“ (Joseph LeDoux S. 373). 

Emotionale Gefühle sind in der Sicht von LeDoux „kognitive Deutungen der Situation, in der wir uns befinden – eine Fähigkeit, die … auf die Evolution des autonoetischen Bewusstseins zurückgeht … Für mich sind Emotionen autonoetische bewusste Erfahrungen, die kognitiv zusammengesetzt werden … Die Vorstellung einer unbewussten Emotion stellt somit einen Widerspruch in sich dar: Wenn man etwas nicht fühlt, ist es auch kein Gefühl, keine Emotion. Nichtsdestoweniger spielen nichtbewusste Faktoren gleichfalls eine Rolle … Schemata [sind] Baustelle der Kognition. Und in dem Maße, wie Emotionen einen bestimmten Kogni-

tionstypus darstellen, tragen Schemata entscheidend zu ihrer Bildung bei. Musterergänzung von Schemata bei gleichzeitiger Aktivität verschiedener Faktoren niedriger Ordnung, also nichtbewusster, erzeugt bewusste Inhalte. Einige dieser nichtbewussten Faktoren schließen perzeptuelle und gedächtnisbezogenen Repräsentationen äußerer Reize ein sowie Repräsentationen, die der Aktivierung der überlebenssichernden Schaltkreise entspringen. 

Schemata selbst sind, wie bereits erwähnt, nichtbewusste Repräsentationen, die uns helfen, uns in Situationen zurechtzufinden. Zwei miteinander verbundene Schemata spielen bei bewussten Emotionen eine besonders wichtige Rolle – nämlich das Selbst- und das Emotions-Schema. Als autonoetisches Erleben sind emotionale Gefühle persönlich – sie sind zwingend an das Selbst und an das Selbst-Schema geknüpft. Ohne das Selbst als Teil des Erlebens ist es kein emotionales Erleben … Besonders wichtig bei der kognitiven Montage bewussten emotionalen Erlebens sind auch ›emotionale Schemata‹ – nichtbewusste Wissenseinheiten von Situationen, mit deren Hilfe wir Situationen konzeptualisieren, die uns herausfordern oder in denen sich uns bestimmte Gelegenheiten eröffnen“ (Joseph LeDoux S. 378 ff.)

Alle Organismen, ganz gleich wie einfach oder komplex sie sind, tragen zum Überleben der Art bei, „indem sie Energiequellen nutzen, ihren Flüssigkeits- und Ionenhaushalt ausgleichen, Schäden vermeiden und sich fortpflanzen. Diese grundlegenden Überlebenshandlungen sind in entsprechenden Schaltkreisen festgelegt, die bestimmte angeborene Verhaltensweisen in Organismen mit zentralen Nervensystemen steuern. Emotionen erzeugen sie allerdings nicht. Emotionen sind meiner Auffassung nach eine Spezialisierung des Menschen und nur durch die einzigartigen Fähigkeiten unseres Gehirns möglich. Emotionen, wie wir sie erleben, könnte es nicht ohne unsere Hominiden-Vorfahren geben, die Sprache, hierarchisches relationales Denken, noetisches Bewusstsein und reflektierendes autonoetisches Bewusstsein (etwa mentales Modellieren des Selbst in Bezug auf die Zeit) entwickelten. Durch diese Fähigkeiten konnten die Funktionen aller Überlebensschaltkreise mit Selbstwahrnehmung ergänzt, in Form von semantischer, konzeptueller und episodischer Erinnerung gefasst sowie zur Steuerung des Verhaltens in der Gegenwart und zum Planen zukünftiger emotionalen Erlebens genutzt werden. So wurden Emotionen zum mentalen Gravitationszentrum des menschlichen Hirns, zum Stoff von Erzählungen und Märchen und zur Grundlage von Kultur, Religion, Kunst, Literatur – kurz, von allem, was in unserem Leben Bedeutung hat“ (Joseph LeDoux S. 397).

Damit ist autonoetisches Bewusstsein die Essenz dessen, was wir bewusst über uns selbst wissen. Und weiter auch die Grundlage unserer Konzeptionen von Kunst, Musik, Architektur, Literatur, Wissenschaft und „unserer Fähigkeit, sie zu schätzen. Aus gutem Grund nennt Hakwan Lau seinen Blog In Consciousness We Trust“ (vergleiche dazu http://inconsciousnesswetrust.blogspot.com und Joseph LeDoux S. 401). Aber während Bakterien, Bienen, Würmer, Fische, Schlangen, Katzen und Affen über Jahrtausende überlebt haben, ist das „autonoetisch bewusste menschliche Gehirn die einzige Einheit in der Geschichte des Lebens, die willentlich beschließen kann, ihre eigene Existenz zu beenden oder die physische Existenz des Organismus in Gefahr zu bringen … Von den frühen Menschen nimmt man an, dass sie, verglichen mit der damaligen Fauna, nicht sonderlich bemerkenswert waren. Doch an einem bestimmten Punkt (die Schätzungen schwanken hier zwischen 50 000 und 200 000 Jahren vor unserer Zeit) geschah etwas, das unsere Vorfahren plötzlich von der restlichen Tierwelt abhob. Sie entwickelten neue Fähigkeiten, Lebensweisen und Formen der Interaktion – Sprache; hierarchisches relationales Denken; Repräsentation des Selbst gegenüber anderen; mentale Zeitreisen. Das Ergebnis war die Autonoesis … 

Da Autonoesis die organische Einheit bedrohen kann, indem sie die allgemeinen Überlebensziele und Bedürfnisse des Organismus untergräbt, muss sie einen bedeutenden überlebenssichernden Vorteil mitgebracht haben – andernfalls wäre sie als evolutionärer Ausrutscher eliminiert worden. Ein möglicher Vorteil liegt auf der Hand: Statt ein Risiko einfach nur zu erkennen und zu vermeiden, kann ein Organismus dank des autonoetischen Bewusstseins das Risiko personalisieren, indem er fragt: ›Wie gefährlich ist das für mich?‹ Ich glaube, dass Autonoesis auf diese Weise Emotionen ermöglicht hat. Eine Emotion ist das Erleben von etwas, das einen gewissen Wert für das Selbst besitzt. Kein Selbst, keine Angst, – keine anderen Emotionen“ (Joseph LeDoux S. 402 ff.). LeDoux ist davon überzeugt, dass wir als Individuen nur überleben, wenn wir als Art überleben. Die biologische Evolution wird uns aber vor den Folgen der Umweltkrise und einer denkbaren atomaren Katastrophe nicht retten können. „Daher müssen wir auf schnellere Wege der Veränderung ausweichen – die kognitive und kulturelle Evolution, die auf unseren autonoetischen Gehirnen gründen. So ist es am Ende tatsächlich das Bewusstsein, in das wir unser Vertrauen setzen müssen“ (Joseph LeDoux S. 408).

Wie kann man aber auf etwas setzen, das sich selbst und alles Leben infrage stellen kann? LeDouxs Schlussfolgerung mutet nach 408 Seiten anspruchsvoller Argumentation in sich widersprüchlich und mehr als bescheiden an. Das mag auch daran liegen, dass Wissenschaft zwar allgemeine Gegebenheiten und Gesetze, aber nicht die Frage nach dem Sinn des Ganzen erfassen beantworten kann. Vielleicht hilft deshalb eine Denkfigur weiter, die der 2021 verstorbene britische Teilchenphysiker und anglikanische Theologe John Polkinghorne im Blick auf die Triebkräfte der kosmischen Evolution ins Spiel gebracht hat. Nach Polkinghorne war nicht die natürliche Selektion die Triebkraft der Evolution, sondern die Realisierung der fruchtbaren Möglichkeiten, die in dem naturgegebenen Prozess selbst enthalten sind. „Die Einsicht, die heute das ›anthropische Prinzip‹ genannt wird, erkennt an, dass die Stärken und Eigenschaften dieser Gesetze, d. h. die Form der Notwendigkeit, genau abgestimmt sein mussten, um eine Entwicklung zuzulassen, die zur Möglichkeit von Leben auf Kohlenstoffbasis führte. – Betrachtet man diese naturwissenschaftliche Geschichte aus theologischer Perspektive, kann ihre Bedeutung dadurch vertieft werden, dass sie als die Entfaltung eines kontinuierlichen schöpferischen Aktes (creatio continua) interpretiert wird, in dem der Schöpfer es dem Universum ermöglicht … ›sich selbst Gestalt zu geben‹ (to make itself)“ (John Polinghorne, Evolution theoriegeschichtlich und kosmologisch. In: RGG, 4. Auflage, Band 2, Spalte 1751 f., Tübingen 1999). Wenn man Polkinghorne folgt, leben wir nicht nur in einer Welt des Bewusstseins, sondern auch in einer Welt, die durchdrungen ist ›mit Zeichen des Geistes‹: 

„Ich glaube, eine attraktive, schlüssige und intellektuell zufriedenstellende Erklärung dafür ist, daß es tatsächlich einen göttlichen Geist hinter der wissenschaftlich erkannten rationalen Ordnung des Universums gibt. Ich glaube, daß Wissenschaft möglich ist, weil die physische Welt geschaffen wurde, und weil wir, um eine alte und starke Formulierung zu verwenden, Geschöpfe sind, die als Bild dem Schöpfer gleichen (1. Mose 1, 26). Diese Einsicht ist mein primärer Grund für den Glauben, daß das Universum geplant erschaffen wurde. Ich entschuldige mich nicht für die theistische Sprechweise, denn wenn das Universum geplant erschaffen wurde, wer könnte dann sein Konstrukteur sein, wenn nicht ein Schöpfer-Gott?

Ein zweiter Grund: Es wurde vielfach bemerkt, daß Leben auf Kohlenstoffbasis unmöglich wäre, wenn die Naturgesetze und -konstanten, wie wir sie beobachten, nur geringfügig anders wären. Ich stimme hier mit dem Philosophen John Leslie überein, daß dies kein bloßer Zufall ist, sondern es entweder viele Universen mit ganz unterschiedlichen Naturkonstanten gibt, und unseres die Existenz von Menschen zufällig möglich gemacht hat, oder daß unser Universum gezielt geschaffen wurde“ (John Polkinghorne, Gott ist das Letzgültige. In: https://www.wissenschaft.de/geschichte-archaeologie/prof-polkinghorne-gott-ist-das-letztgueltige/)

ham, 3. März 2023

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