Karl Blessing Verlag, München, 2020 ISBN 978-3-89667-690-0, 208 Seiten, 7 s/w Abbildungen, Hardcover mit Schutzumschlag, Format 22 x 14,5 cm, € 22,00 (D) / € 22,70 (A) / CHF 30,90

Der 1951 in Tübingen geborene Arzt, Psychotherapeut und Neurowissenschaftler Joachim Bauer hat sich schon während seines Medizinstudiums für Belange der Umwelt interessiert, 1975 mit gleichgesinnten Studienkollegen, Bauern, Winzern, kritischen Bürgern und Künstlern gegen den zuerst in Breisach und ab 1973 in Wyhl geplanten Bau eines Kernkraftwerks demonstriert und dabei erlebt, dass zivilgesellschaftlicher Widerstand ein fest beschlossenes, aber von Betroffenen als grundfalsch angesehenes Projekt zu Fall bringen kann. Dieses Erleben mag sein heutiges Engagement für einen nachhaltigen Umgang mit der Mitwelt beeinflusst und geprägt haben.

Dass seine Studienkollegen und er die damals anstehenden Zwischenprüfungen trotz der Teilnahme an der Besetzung des Baugeländes in Wyhl gut bestanden haben, lässt ihn kopfschüttelnd auf die Mitbürger blicken, die über die Schüler der Fridays for Future-Bewegung meckern. Diese Zeitgenossen haben seiner Meinung nach immer noch nicht begriffen, wie schlecht es um unseren Globus steht. Die Welt ist ernsthaft erkrankt. Sie hat Fieber. Sie „steht ökologisch auf der Kippe. Darüber sind sich 97 Prozent aller wissenschaftlichen Experten einig“ (Joachim Bauer S. 11). Deshalb kommt nach Bauer alles darauf an, die nach seiner Imagination bis zum Neolithikum intakte Beziehung zwischen Mensch und Natur wieder herzustellen. „Niemand kann sagen, wie sich unsere Vorfahren in einer Zeit gefühlt haben, zu der sie als nicht sesshafte Sammler, später dann auch als Jäger durchs Gelände streiften. Wenn ihm auch jeder Komfort fehlte, so war dem als Sammler und Jäger lebenden Menschen aber eines gewiss: Seine Person und sein Lebensraum waren Teil einer ganzheitlichen, holistischen Naturwelt und in deren Rhythmen eingebettet. Menschliche Habitate und Biotope des Tierreichs waren eine Welt“ (Joachim Bauer S. 49). Die Natur überließ dem Menschen ihre Pflanzen- und Tierwelt, ihre Gewässer und ihre Schönheit. „Die Natur … dürfte, so meine Hypothese, auf einer intuitiven, unbewussten Ebene auch ihrerseits vom Menschen als einfühlend erlebt worden sein“ (Joachim Bauer S. 16 f.). Da sie uns gibt, was wir brauchen, kann man sie in der Diktion der Publikation auch als empathisch bezeichnen. Empathie aber braucht Gegenseitigkeit. Doch um die ist es schlecht bestellt. 

Seit der Sesshaftwerdung und dem Eintritt des Menschen in den zivilisatorischen Prozess kam es nach Bauer zwischen Mensch und Natur zu einer Entfremdung. Mit der Bewirtschaftung der Natur haben sich die Menschen aus den natürlichen Kreisläufen abgekoppelt, sich zu Clans und Gruppen zusammengeschlossen, gegen andere Gruppen und Clans positioniert, sich mental verändert und als Herren der Welt aufgespielt. Neuerdings ist die Natur in einem derartigen Ausmaß dem zivilisatorischen Regime der menschlichen Spezies unterworfen, dass sie nun umgekehrt „zu unserem Schützling wurde“ (Joachim Bauer S. 23). Aber Mensch und Natur stehen nicht nur in einer wechselseitigen existentiellen Abhängigkeit, sondern fühlen auch, wie es dem anderen geht. Geht es einem schlecht, wird es beiden schlecht gehen. Aus der Entfremdung droht ein unumkehrbarer Bruch zu werden. Wenn aber gegenseitige Einfühlung und Empathie tragende Voraussetzungen des gemeinsamen Überlebens sind, stellt sich die Frage, wie wir wieder zu ihr zurückkehren können. Bauers Antwort, dass wir wieder lernen müssen, zu fühlen, was die Welt fühlt, wird auf dem Hintergrund seiner Ausbildung und seiner bisherigen Veröffentlichungen verständlich. 

Zwischen seinem Erleben in Wyhl und seiner nach seiner Emeritierung an der International Psychoanalytic University Berlin angetretenen Gastprofessur liegen unter anderem seine Facharztausbildung in Innerer Medizin an der Universitätsklinik in Freiburg, Forschungen am Mount Sinai Medical Center in New York und seine erste Habilitation im Bereich der Immunologie, seine Facharztausbildung und seine zweite Habilitation im Fach Psychiatrie, seine Tätigkeit als Arzt und Oberarzt in der Ambulanz der Abteilung Psychosomatische Medizin der Universitätsklinik Freiburg, seine Universitätsprofessur für Psychoneuroimmunologie und eine rege Gutachter-, Referenten- und Publikationstätigkeit. Sein Interesse an seelischen Vorgängen hat ihn auch zur Beschäftigung mit den erstmals 1992 von Giacomo Rizzolatti und seinen Mitarbeitern beschriebenen Spiegelneuronen (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Spiegelneuron) und zu seiner Vorstellung eines wahrscheinlichen Einflusses psychischer Erlebnisse auf die Genexpression geführt (vergleiche dazu Joachim Bauer: Das Gedächtnis des Körpers – Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern. Frankfurt 2004), weiter zu seinem Begriff der Empathie (vergleiche dazu Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst – Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneuronen. Hamburg 2005), zu seinem Abschied vom herkömmlichen Darwinismus und schließlich zu seinem Nachdenken über das kooperative Gen (vergleiche dazu Joachim Bauer. Das kooperative Gen. Abschied vom Darwinismus. Hamburg 2008). Sein Verständnis der Spiegelneuronen und der Empathie wurde von den Neurowissenschaftlern Claus Lamm und Jasminka Majdandžić ebenso heftig kritisiert (vergleiche dazu Claus Lamm und Jasminka Majdandžić, The role of shared neural activations, mirror neurons, and morality in empathy – A critical comment. In: https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0168010214002314?via%3Dihub) wie seine Neuinterpretation des Darwinismus von dem international renommierten Evolutionsbiologen Axel Meyer aus Konstanz (vergleiche dazu Axel Meyer, Dummes Zeug über Darwin. In: https://brightsblog.wordpress.com/2008/12/07/dummes-zeug-uber-darwin/).

Aber weder die eine noch die andere Kritik hat Bauer davon abgehalten, seine Ausgangsvorstellung weiterzuverfolgen; er weitet sie jetzt sogar auf das große Ganze, auf die Evolution aus. „Dass wir der Natur empathisch gegenüber treten können, hat nicht nur … evolutionsbiologische, sondern weitere triftige biologische Gründe. Jedes Lebewesen dieser Erde – Virus, Einzeller, Pflanze, Baum, Tier, Mensch – stellt für sich eine biologische Einheit dar, welche in ein jeweils größeres System, in eine größere biologische Einheit eingebettet ist. Am deutlichsten wird dies am Beispiel des in den Organismus einer schwangeren Frau eingebetteten Fötus. Obwohl ihm noch jeglicher Verstand fehlt, fühlt er, wie es ihr geht und umgekehrt. Beide sind sich empathisch – im Sinne gegenseitiger Einfühlung – verbunden. In ganz ähnlicher Weise ist die Menschheit als Ganzes in die Natur, in das Ökosystem der Erde, in die Welt, in der wir leben, eingebettet“ (Joachim Bauer S. 21 f.). Die heftige wissenschaftliche Kritik hat ihn in seinem Sprachspiel vorsichtiger werden lassen. Bauer spricht jetzt, auch wenn er seiner Linie treu bleibt, in Metaphern und verweist zudem auf unbewusste, intuitive Wahrnehmungsprozesse. Er geht in all dem nach wie vor davon aus, dass man die Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt mit der emphatischen Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem ungeborenen Kind vergleichen kann und er weitet diese Vorstellung wie schon gesagt auf die Beziehung zwischen der Mutter Erde und der Menschheit aus. Damit kann auch die Erde fühlen, wie eine Mutter fühlt und der Mensch kann und soll dieses Fühlen erwidern. Bauer sichert das Gesagte zusätzlich dadurch ab, dass er mehrmals ausdrücklich darauf hinweist, dass es natürlich immer „›nur‹ wir Menschen sind, die dieses Bild entstehen lassen“ (Joachim Bauer S. 12 und in weiteren Stellen).

Der endgültige Bruch mit der Natur kann nach Bauer verhindert werden, wenn wir begriffen haben, wie die Natur gelesen werden will und warum es zum Bruch mit der Mutter Erde gekommen ist. „Die Natur zu erkunden, sie richtig zu ›lesen‹ und zu verstehen, war für den Menschen über Hunderttausende von Jahren die wichtigste aller Aufgaben. Bekanntlich hat die gesamte Menschheit einen Migrationshintergrund. In mehreren Auswanderungswellen haben die Vorfahren des modernen Menschen im Verlauf der letzten 200 000 Jahre den afrikanischen Kontinent … verlassen … Jedes Gelände war neu, konnte gefährlich oder chancenreich sein und musste hinsichtlich seiner Eignung für einen vorübergehenden Aufenthalt richtig eingeschätzt werden. Die Natur zu verstehen oder – wie es der Titel dieses Buches formuliert – zu fühlen, wie die Welt fühlt“, ist für ihn trotzdem „keine ›Anthropologisierung‹, sondern war über Zehntausende von Jahren das Kerngeschäft unserer Vorfahren. Diese Fähigkeit stellt eine einzigartige Begabung unserer Spezies dar. Dass wir sie vergessen haben oder verkommen ließen, bildet den Kern der Probleme, vor denen wir heute stehen. Dass wir Menschen über einen langen evolutionären Zeitraum vor die Aufgabe gestellt waren, ständig neues Gelände zu erkunden, ist ein Alleinstellungsmerkmal unserer Spezies … Unsere Vorfahren mussten, wenn sie weiterzogen, ständig eine neue Welt erkunden. Daher ist die Verbundenheit, die sich im Laufe der evolutionären Vorgeschichte zwischen Mensch und Natur entwickelt hat, einzigartig“ (Joachim Bauer S. 13 f.). Die Natur hielt alles vor, was der Mensch zum Überleben gebraucht hat. Sie gab es ihm aus freien Stücken weiter. „Vieles spricht dafür, dass Menschen auch heute noch – in ihrem intuitiven, unbewussten Erleben – die Natur als einen emphatischen Lebensraum empfinden, der uns umgibt, wie eine schwangere Frau ihr Kind umgibt“ (Joachim Bauer S. 17). 

Der Bruch setzt in der neolithischen Revolution ein. Mit seinem Sesshaftwerden wird der Mensch zum Ausbeuter der Natur. „Mit Beginn menschlicher Zivilisation wurde die Natur für den Menschen zum Gebrauchsobjekt. Die utilitaristische Grundhaltung verändert nicht nur den Blick des Menschen auf die Welt, sondern auch auf sich selbst. Die Sesshaftwerdung bescherte dem Menschen die ›Erfindung‹ dessen, was wir heute ›Stress‹ nennen. Die Nichtbeachtung von Bedürfnissen, seien es die der Natur, die unserer Mitmenschen, oder die eigenen, bildet den Gegenpol zur Empathie“ (Joachim Bauer S. 67 f.). Die Abholzung der Wälder für Ackerbau und Viehzucht, die Verbrennung fossiler Energieträger wie Öl, Gas und Kohle und Fehlentwicklungen in der Landwirtschaft haben dazu geführt, dass die Erde immer wärmer wird. „Die Auswirkungen der Erderwärmung auf den Menschen lassen uns fühlen, was die Erde fühlt: Die materiellen, medizinischen und sozialen Auswirkungen sind gewaltig“ (Joachim Bauer S. 99). „Vegetarisch zu leben, den Energieverbrauch zu reduzieren, weniger zu fliegen, vom Auto aufs Rad oder öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen, all dies wäre … gelebte Empathie – nicht nur gegenüber der Erde, sondern auch gegenüber unserer eigenen Gesundheit. Die Kultur einer ökologisch gut aufgestellten Gesellschaft wird keine Kultur eines schlechten, freudlosen Lebens sein, im Gegenteil“ (Joachim Bauer S. 100). 

Spalterische, narzisstische und aggressive Tendenzen und Desinformation bedrohen den heutigen gesellschaftlichen Zusammenhalt zusätzlich und erschweren die gelebte Empathie. „Doch wir sind nicht machtlos. Das Arsenal der wissenschaftlichen Forschung und der modernen Medizin ist beachtlich. Die Wissenschaften sind ein Geschenk der Aufklärung, das dem Menschen, wie Immanuel Kant es formulierte, den Weg aus selbstverschuldeter Unmündigkeit gewiesen hat. Vor Zeitgenossen, die sich nach einer Rückkehr in die Unmündigkeit zu sehnen scheinen, die dem Despotismus starker Männer und dem Glauben an magische Kräfte anhängen, sollten wir uns hüten. Was unseren evolutionären Vorfahren das Überleben ermöglichte, kann auch uns helfen: Vernunft und Empathie“ (Joachim Bauer S. 162).

ham, 15. Februar 2021

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