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Arno Luik, Rauhnächte

Von Helmut A. Müller | In Autobiografie, Gesundheit

Westend Verlag, Frankfurt am Main 2023, ISBN 978-3-86489-419-0, 188 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Format 21 x 13,5 cm, € 22,00 (D) / € 22,70 (A)

Unter den Rauhnächten werden herkömmlich die zwölf Weihnachtstage vom 24. Dezember bis zum Erscheinungsfest am 6. Januar verstanden, in denen die Geister und die Seelen der Verstorbenen nach dem Volksglauben Ausgang haben, Umzüge veranstalten oder mit der Wilden Jagd (vergleiche dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Wilde_Jagd) durch die Lande ziehen. Für den 1955 in Königsbronn auf der Ostalb geborenen Journalisten und Autor Arno Luik begann seine erste Rauhnacht nicht mit dem ersten Weihnachtstag, sondern am 19. September 2022 mit der Diagnose Darmkrebs. An diesem Tag sollte er die Befunde der Gewebeproben bekommen und dann sollte es klar sein, ob der Tumor gutartig ist oder nicht und ob man ihn sofort operieren kann oder ob weitere Untersuchungen nötig sind.

Am 19. September wartet er und wartet und wartet. „12 Uhr 15: Noch keine Meldung des Arztes. Gestern im Fernsehen ›Sounds of Silence‹, ein Lied, das ich immer gern hörte. Plötzlich musste ich weglaufen, bei dieser Zeile: ›Fools‹ said I. ›You do not know / Silence like a cancer grows‹. Tausend mal diese Zeile ›Silence like a cancer grows‹ mitgesungen, nie nichts dabei gedacht. Aber nun habe ich diesen Krebs, diesen Feind in meinem Körper. Nun wirft mich der Song um, ich muss weglaufen, zum ersten Mal mit Tränen in den Augen.

Um 13 Uhr ruft der Arzt an. Gute Nachrichten. Schlechte Nachrichten. Die gute Nachricht: Wir haben den Krebs sehr früh erwischt. Die schlechte Nachricht: Es kann sein, dass der bösartige Krebs schon ausstrahlt – in die Leber. Wenn ich nicht wüsste, dass ich krank bin, wäre ich gesund – so fühle ich mich“ Arno Luik S. 11f.).

Am 23. September, dem Ende seiner ersten Rauhnacht, kommt er erneut von der Therapiebesprechung zurück. Wieder war er unfähig, wirkliche Fragen zu stellen, das machte seine Frau Barbara. „Ich sitze da, beobachte die Szene von außen, drei Menschen in einem kleinen Raum, zwei sind sehr traurig, und die dritte Person möchte helfen. Und muss doch die Dinge erzählen, die auf mich zukommen können: Durchfall, Müdigkeit, Depression, Leistungsabfall, Erbrechen, die Bestrahlung kann auch Schäden im Genitalbereich auslösen. Ich höre zu und versuche, alles zu vergessen. Muss diese Sitzung verdauen … Die nächsten Monate werden hart. Achterbahn. Vielleicht komme ich in eine medizinische Studie? Die Therapie, die bei mir angewendet wird – das  machen die Ärzte erst seit gut einem Jahr. Es geht mit Chemo los, ein ziemlich heftiger Cocktail, dem folgt ein Mix aus Chemo und Bestrahlung. Die Ärzte hoffen, dass sie damit den Tumor wegschießen, komplett wegschießen können. Wenn nicht, wird es schrecklich für mich. Der Krebs hat sich an der unmöglichsten Stelle festgekrallt. Kommenden Donnerstag geht es los mit der Behandlung. Morgen fahren wir nach Königsbronn …, wo Barbara und ich das Haus meiner Eltern übernommen haben. 

Nachtrag: Alle zwei Wochen, drei Monate lang, mindestens, krieg ich einen Infusionsbeutel an meinen Körper geschnallt“ (Arno Luik S. 16 f.).

„Klimakatastrophe, Krieg, Krebs. Korona, keine Königin Elisabeth mehr: 2022, das Katastrophenjahr, annus horribilis, mit den zu vielen Ks geht endlich zu Ende. Unhoffend hoffe ich, dass 2023 besser wird“ (Arno Luik S. 182). Am 1. Januar 2023 endet Luiks letzte Rauhnacht. „Der erste Morgen im Neuen Jahr. Der Kaffee schmeckt gut. Alles scheint gut. Kaum was ist gut. Dieses verfluchte K-Jahr. Ist es wirklich vorbei? Diese Ks, die ja wohl kaum verschwinden werden – bin ich, ein Gedanke, der mich plötzlich aufschreckt, bin ich deswegen froh, dass ich so krank bin? Vielleicht nicht mehr so lange lebe? Darf ich so denken? Weil meine existentielle Unsicherheit, die Lust auf die Zukunft, von der Düsternis der Gegenwart vernebelt ist? Weitermachen. Hoffnung nicht aufgeben, sage ich mir – obwohl das mich selbst verstörende Denken ohne Unterlass weitergeht.

In drei Monaten ist meine Chemo vorbei. Dann wird mein Körper durchgecheckt, es wird wieder eine Tumorkonferenz geben, dann weiß ich – wahrscheinlich hoffentlich, vielleicht –, wie es um mich steht. Wie es mit mir weitergeht“ (Arno Luik S. 182 f.).

Zwischen seine erste und seine letzte Rauhnacht bindet Luik die in dieser Zeit entstandenen Kolumnen ›Merkwürdige Zeiten‹ ein, mit denen er sich in das politische Tagesgeschehen einmischt und sich für ein paar Stunden von seinem eigenen Ergehen ablenkt. Dass er einer von über 510 000 im Jahr 2022 neu an Krebs Erkrankten und einer von etwa 1,6 Millionen Krebskranken in Deutschland ist, weiß Luik. Ob er zu den 50 Prozent der Männer gehören wird, die ihren Krebs überleben, kann ihm niemand sagen (vergleiche dazu  https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/praevention/nationaler-krebsplan/was-haben-wir-bisher-erreicht/langzeitueberleben-nach-krebs.html). Mit dieser Ungewissheit weiterzuleben, ist alles andere als leicht.

ham, 6. April 2023

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